Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
kurze Zeit korrigieren, und auch nur unter Aufbietung meiner ganzen Willenskraft. Ich muss einen Weg finden, mich zu heilen und Körper und Geist in Einklang zu bringen. Wenn ich es nicht tue, werde ich erkranken.
Heute haben meine Füße geblutet und zwei Paar Socken durchtränkt. Ich war selig. Zu sehen, wie diese münzgroßen dunkelroten Flecken in dem weißen Stoff erblühten, ist wie die heilige Kommunion für mich. Meinen Körper so weit in Schmerz und Erschöpfung zu treiben ist eine Religion für mich geworden.
Mein Leben hat mich gelehrt, dass wahre spirituelle Einsicht nur aus direkter Erfahrung kommen kann, wie man sich auch nur ernstlich verbrennen kann, wenn man die Hand ins Feuer hält. Glaube ist nichts als der verwässerte Versuch, fremde Einsichten als eigene zu akzeptieren, die psychische Entsprechung eines getragenen Kleidungsstücks, verschlissen und weitergereicht. Wahre spirituelle Einsicht setze ich mit Weisheit gleich, und das ist etwas anderes als Wissen. Wissen kann man aus vielen Quellen erhalten: aus Büchern, Geschichten, Liedern, Legenden, Mythen und – in modernen Zeiten – auch aus Computern und Fernsehsendungen. Weisheit dagegen schöpft man eigentlich nur aus einer einzigen Quelle: aus dem Schmerz. Jede Erfahrung, die einem Menschen Weisheit bringt, wird normalerweise auch eine Narbe hinterlassen. Je größer der Schmerz, desto größer die Erkenntnis. Glaube ist spiritueller rigor mortis.
Ich erinnere mich schemenhaft an das Leben in dem, was ich die reale Welt nenne. Es war anscheinend eine Kette von Ereignissen, die ineinanderflossen, nicht immer nahtlos, aber doch wenigstens natürlich. An meiner jetzigen Situation ist nichts Natürliches. Nichts fließt – ja, nichts bewegt sich –, ohne dass jemand eine ungeheure Menge Willenskraft auf einen der Druckpunkte der Realität verwendet. Und selbst dann ist es, als versuchte man, einen Basketball in der Luft zu halten, indem man dagegenpustet. Ein Leben ohne Eigendynamik ist kein wirkliches Leben. Ein Mensch braucht Bewegung, oder er wird nach und nach vergessen, dass er existiert.
Ich habe Geschichten gelesen, in denen die Seligkeit durch irgendeine bizarre Form von emotionaler Alchimie zu Lethargie oder Krankheit wird. Vielleicht ist es Langeweile, was einen Prinzen veranlasst, alles aufzugeben, was er kennt, und zum Bettler zu werden. Ich kann es nicht sagen. Was ich mich allmählich fragte, war, ob vielleicht das Gegenteil stimmt – ob ich, wenn ich dem Faden des Schmerzes auf eine Ebene folge, die tief genug ist, etwas anderes finden könnte. Ich wusste, ich war nicht der Erste, der sich diese Frage stellte, denn in bestimmten Native-American-Völkern unterzogen die Männer sich manchmal entsetzlich schmerzhaften Prüfungen auf der Suche nach spirituellen oder psychischen Einsichten.
Einer der qualvollsten und bekanntesten Wege zur Sinneserweiterung ist das Fasten. Bei meinem ersten Versuch habe ich zwei Wochen lang nichts als Wasser zu mir genommen. In den ersten vier Tagen war der Hungerschmerz, verbunden mit der Verschlechterung des körperlichen Zustandes, nervenaufreibend. Meine Haut war fieberheiß. Es erinnerte mich an die schlimmsten Krankheitszustände meiner Kindheit. Die kamen ohne Vorwarnung, Ich wurde einfach mitten in der Nacht wach und hatte hohes Fieber. Ich war so schwach, dass ich mich nicht bewegen konnte, aber es fühlte sich an, als schwebte ich. Ströme von Energie flossen durch mein Bewusstsein, und ich erkannte, dass sie immer durch die Welt flossen, aber dass ich sie nur fühlte, wenn ich in diesem fiebrigen Zustand war. Selbst jetzt kann ich sie bestenfalls so beschreiben, dass ich einen Fluss aus rosafarbenen Stimmen hörte. Als ich ins Teenageralter kam, hörte es auf. Beim allerletzten Anfall stieg mein Fieber so hoch, dass meine Mutter mich in eine Wanne mit eiskaltem Wasser tauchte, um es zu senken. Dieses Eiswasser an meiner Haut war eins der entsetzlichsten Gefühle meines ganzen Lebens. Ich wollte schreien und mich sträuben, aber ich konnte nur daliegen und nach Luft schnappen. Ich konnte nicht mal weinen. Meine Mutter murmelte beruhigend und strich mir das Haar zur Seite, wenn sie das eisige Wasser über mein Gesicht schüttete. Ich dachte immer nur: Wieso weiß sie nicht, dass ich in der Hölle bin? Das Fieber hat mir nie etwas ausgemacht. In gewisser Weise war es behaglich. Das Eiswasser, dachte ich, würde mich umbringen.
Beim Fasten schlief ich fiebrig, hungrig und erschöpft
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