Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
und lasen die Texte. Matt fanden wir schließlich bei den Videospielen, und alle drei kehrten wir zur Bowlingbahn zurück, wo Gail uns kurz danach abholte.
Der Abend war so kalt, dass alles kristallklar aussah, magisch und ein bisschen furchterregend. Die Welt war plötzlich sehr groß. Ich erinnere mich an jede Einzelheit, weil es das erste Mal war, dass ich mich so mutwillig und vollständig über alle Verbote hinweggesetzt hatte. Wir waren frei und konnten tun, was wir wollten, ohne dass uns jemand dreinredete und ohne die Aufsicht Erwachsener. Eine ganz neue Welt hatte sich da aufgetan. Das Gefühl von Abenteuer und absoluter Freiheit war unglaublich.
Als Gail kam, stiegen wir rasch in den Wagen und fuhren zurück nach Lakeshore. Wir gingen alle drei in Jasons Zimmer, um das neue Metallica-Tape zu hören und mit dem Nintendo und dem alten Fernseher auf seiner Kommode Videogames zu spielen. Ich weiß nicht mehr, wer als Erster den Vorschlag machte, wir sollten uns heimlich verdrücken, aber die Idee schlug sofort ein. Die Zeit verging quälend langsam, als wir drauf warteten, dass Jasons Mom und sein Stiefvater schlafen gingen. Als das Licht gelöscht war, gaben wir ihnen noch eine Stunde, um sicher zu sein, dass sie auch wirklich schliefen.
Wir kletterten durch Matts Fenster hinaus, denn es war größer als das in Jasons Zimmer. Außerdem konnten wir von dort auf den Zaun steigen, wenn wir die Beine weit genug ausstreckten, und von da war es nur ein kleiner Sprung auf den Boden. Jason und Matt machten das nicht zum ersten Mal und hatten keine Probleme. Ich dagegen blieb mit einem Bein drinnen und einem Bein draußen hängen. Sie » halfen « mir und zerrten an dem Bein, das draußen hing, sodass ich mir auf dem Zaun fast die Hoden zerquetscht hätte.
Wir hatten kein spezielles Ziel; also wanderten wir eine Zeitlang durch die Straßen von Lakeshore. Hunde bellten hinter uns her. Es war so kalt, dass die Pfützen am Straßenrand von einer dünnen Eisschicht bedeckt waren, die im Licht der Straßenbeleuchtung funkelte wie Diamanten. Mir war schwindlig vor Aufregung, und ich fand Jason höchst welterfahren, weil er so etwas schon öfter getan hatte.
Wir beschlossen, die nahen Bahngleise zu besuchen; Jason sagte, da sei ein Baumhaus, in dem die Leute manchmal Weinflaschen zurückließen. Um dort hinzukommen, mussten wir ein freies Feld überqueren, und dabei dachten wir nicht daran, dass es kürzlich geregnet hatte. Wir brachen mit den Füßen durch die dünne Eisschicht und standen alle drei im knöcheltiefen Wasser. Wir klapperten vor Kälte mit den Zähnen, aber das dämpfte unsere Begeisterung nicht, und so stapften wir weiter.
Als wir schließlich an den Bahngleisen ankamen, war nicht nur das Baumhaus zertrümmert, sondern der ganze vermoderte Baum war umgekippt. Wir gingen weiter, ungefähr eine Meile an den Gleisen entlang, und wollten im weiten Bogen wieder zu Jasons Trailer zurück. Lichter und Trailer waren inzwischen ziemlich weit weg, und die Nacht war still. Wir redeten über Geistergeschichten und Horrorfilme, Großstadtlegenden und Dinge, die wir in dem Time-Life- Buch Geheimnisse des Unbekannten gesehen hatten. Bald stand jedes einzelne unserer Nackenhaare zu Berge, und jeder Schatten unserer Fantasie ließ uns zusammenzucken. Wir gingen im Gänsemarsch, Jason als Erster, Matt in der Mitte und ich als Letzter. Matt bestand darauf, zwischen uns zu gehen, damit sich nichts an ihn heranschleichen könnte. Mit leisen Stimmen sprachen wir darüber, dass ein Junge behauptete, am Halloween-Abend einen toten Mann gesehen zu haben, der auf den Gleisen hin und her sprang. Es war, als könnten wir nicht aufhören, unserem eigenen Grusel Nahrung zu geben. Irgendwann später habe ich den Film Stand By Me – Das Geheimnis eines Sommers gesehen, und mich überkam eine überwältigende Nostalgie, weil er mich so sehr an uns drei erinnerte.
Als wir wieder im Trailer waren, schälten wir unsere nassen Schuhe von den Füßen und schliefen bei Headbangers Ball vor dem Fernseher ein. Solange ich lebe, werde ich keine Einzelheit dieser Nacht vergessen. Sie ist ein Teil dessen, was mich zu dem gemacht hat, was ich bin. Ich habe mich immer wieder gefragt, ob Jason und Matt im Laufe der Jahre oft daran gedacht haben.
Als wir älter wurden, verlor das heimliche Wegschleichen einen großen Teil seines Reizes, denn in einer so kleinen Stadt kann man ja nirgends hin und nichts unternehmen. Um zehn ist alles zu, und nach
Weitere Kostenlose Bücher