Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
den ersten ein, zwei Malen ist es nicht mehr besonders aufregend, durch leere Straßen zu latschen. Stattdessen mieteten wir jedes Wochenende Low-Budget-Horrorfilme, die nie ins Kino gekommen, sondern gleich auf Video erschienen waren, und dann saßen wir die ganze Nacht da, schauten sie an und gaben superschlaue Kommentare ab. Näher bin ich an » satanische Orgien « nie herangekommen. Aber die Polizei hatte eine äußerst lebhafte Fantasie. Ich glaube fast, sie hatten selbst ein paar mehr von diesen billigen Horrorfilmen gesehen, als gut war.
Am Ende dieser Festlichkeiten kippten wir ins Bett und schliefen bis zum nächsten Mittag. Ohne Musik konnten wir nicht einschlafen. Nie habe ich besser geschlafen als da, mit Iron Maiden oder Testament im Hintergrund.
Im Laufe der Jahre kamen Jason und ich uns so nah wie Brüder, denn wir wussten, es gab sonst niemanden, der auf uns Acht geben würde. Wir teilten alles miteinander, was wir hatten – Essen, Kleider, Geld, einfach alles. Wenn einer von uns es hatte, hatten wir es beide. Das war klar, ohne dass man es sagen musste.
Jedes Jahr, wenn die Schule uns ohne feierliche Umstände in die Sommerferien entlassen hatte, verbrachten wir die langen Tage auf dem wackligen Anleger in Jasons Garten. Wir angelten, fütterten die Enten und machten dreckige Bemerkungen oder abschätzige Sprüche über Teenager aus der Nachbarschaft, die ebenfalls dort aufkreuzten. Manchmal spielten wir Videogames, glotzten auf die Mattscheibe, wenn die Nachmittagscartoons liefen, oder hörten uns die Telefonstreiche der Radio-Genies an. Dann wieder suchten wir an entlegenen Stellen nach Schlangen. In unserer Gegend waren Schlangen bares Geld wert, und man konnte sie gegen alles eintauschen. Die Tage vergingen langsam und träge; sie waren heiß und lang, und einer war wie der andere. So sah unser Leben aus, und wir dachten, daran würde sich nie etwas ändern.
Zu meiner ersten Begegnung mit Jessie Misskelley kam es rein zufällig. Eines Tages nach der Schule klopfte ich bei Jason an, und Gail kam an die Tür. Bevor ich etwas fragen konnte, sagte sie: » Er ist nicht hier, er ist bei Jessie Misskelley. « Sie benutzte seinen vollen Namen – Jessie Misskelley –, und wie ich später erfuhr, taten das alle.
Ich machte mich wieder auf den Heimweg, denn ich hatte keine Ahnung, wo ich » Jessie Misskelley « finden würde. Den Namen hatte ich schon mal gehört, und nach allem, was ich da so gehört hatte, war er einer der harten Typen in Lakeshore. Auf halbem Weg hörte ich Jason rufen, und als ich nach links schaute, stand er in der offenen Tür eines Trailers. Es stellte sich heraus, dass Jessie Misskelley nur vier oder fünf Trailer weit von Jason entfernt wohnte. Ich ging durch das Törchen, und Jason führte mich hinein.
Der Trailer machte einen sauberen und gepflegten Eindruck. Kakerlaken oder Mäuse waren nirgends zu sehen, und alles war aufgeräumt. In einem Wohnzimmersessel neben der Tür saß Jessie Misskelley. Er trug Bluejeans, ein T-Shirt und Tennisschuhe. Seine Füße lagen auf dem Couchtisch, und er hielt ein Mortadella-Käse-Sandwich in der einen Hand und ließ mit der anderen eine orangegelbe Signalpistole kreiseln. Seine Hände waren bis zu den Unterarmen schwarz beschmiert, als habe er an einem Auto gearbeitet. Auf seinem Kopf saß eine Baseballkappe mit Netz. Das Emblem auf der Stirnseite war die Südstaatenflagge mit einem Totenkopf – das typische Trucker-Outfit. Unter der Mütze fielen lange, glatte braune Haare bis auf die Schultern.
Bevor meine Augen sich an das Licht im Trailer gewöhnen konnten, kreischte eine Frauenstimme mit ohrenbetäubender Wut: » Mach, dass du von dem Fernseher wegkommst! « Anscheinend war ich gemeint, und es kam von einem mageren, dunkelhaarigen Mädchen in einem anderen Sessel. Dieses weibliche Charmebündel erwies sich als Jessies Freundin, die in gewissen Kreisen im Trailerpark berüchtigt war. Manche Typen ließen sich den Namen ihrer Freundin auf die Brust tätowieren. Auf Jessies Brust stand das Wort » Bitch « , und damit war Alicia gemeint.
Jason und ich setzten uns auf die Couch. Jessies Freundin versank wieder in stumpfsinnigem Schweigen. Jessie wurde lebhafter und fing an, im Zimmer herumzusteppen. Er nahm eine Glasfigur von einem Regal und fing an, Kussgeräusche zu machen. » Das ist meine Freundin « , verkündete er und hielt die Figur hoch. Sie sah aus wie eine kleine schwarze Frau mit nackten Brüsten, vielleicht ein
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