Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
Jugendpastor habe es nicht gefallen, wie ich angezogen sei. Es sehe » satanisch « aus. Er schlug vor, ich solle wenigstens den schwarzen Trenchcoat ausziehen. Ich tat es, und er riss die Augen auf und sagte hastig: » Zieh ihn wieder an! « Offenbar war mein T-Shirt mit dem Iron-Maiden-Slogan » No prayer for the dying « – Kein Gebet für die Sterbenden – in dieser Kirche ein Ding der Unmöglichkeit. Bis zu diesem Augenblick hatte ich überhaupt nicht darüber nachgedacht, aber bei allen anderen erregte es ziemliche Aufmerksamkeit. Und dieser Augenblick wurde zu einem der Nägel, die in meinen Sarg gehämmert wurden und das Schicksal besiegelten, das mich hierherbrachte.
Als ich wenige Jahre später im Gefängnis von Monroe County saß und auf meinen Mordprozess wartete, habe ich diesen Jugendpastor im Fernsehen gesehen. Wie von Tollwut geschüttelt, wütete er von » Pakten mit dem Teufel « . Er kam mir vor wie ein Psychotiker. Die schlichte Tatsache, dass ich auf einer kirchlichen Veranstaltung ein solches Hemd getragen hatte, genügte, um viele Leute davon zu überzeugen, dass ich schuldig sein müsse.
Mein Einfluss auf Brians Leben machte sich nach und nach bemerkbar. Seine Kleidung veränderte sich, sein Haar wurde lang und zottig, und er hörte keine christlichen Rockbands mehr. Bald gehörte er auch in die Kategorie » Freak « . Er trug Silberschmuck und rauchte eine Nelkenzigarette nach der anderen. Es war auch nicht mehr unter seiner Würde, sich ab und zu einen Drink aus dem Barschrank seiner Mom zu spendieren. Er schaffte sich ein Skateboard an und war bald besser, als ich es jemals gewesen war.
Er war besser, weil er keine Angst hatte. Es war, als ob ihm die Möglichkeit, dass er fallen und sich verletzen könnte, überhaupt nicht in den Sinn kam. Ein Teil von mir hatte immer Angst, ich könnte stürzen, wenn ich etwas Neues probierte, und deshalb gab es immer ein leichtes Zögern oder einen Hauch von Zurückhaltung. Brian kannte das nicht; er hatte noch nicht gelernt, dass der Schmerz hinter jeder Ecke lauert. Das sah man, wenn man ihm zuschaute.
Bald übernachtete ich an den Wochenenden bei ihm oder er bei mir. An Frühlingstagen gingen wir in den Minimarkt in seiner Nachbarschaft und holten uns Schokomilch, Eis am Stiel und Zigaretten, und dann setzten wir uns auf den Randstein und sahen zu, wie die Leute rein und raus gingen. Das klingt nicht nach einem Riesenspaß, aber ich fand es entspannend.
Ich weiß nicht mehr, aus welchem Grund, aber in dieser Zeit fing ich an, eine merkwürdige Art von Tagebuch zu führen. Es war ein schlichtes schwarzes Notizbuch ohne besondere Eigenschaften, aber später ist es zu einem der peinlichsten und wirklich erniedrigenden Elemente meines Lebens geworden. Jeder andere darf die Periode seiner Teenager-Ängste vergessen. Ich nicht. Dieses verdammte Notizbuch ist immer da und erinnert mich daran. Um ehrlich zu sein, ich bin jedes Mal erstaunt, wenn ich Briefe von Leuten bekomme, die mir sagen, wie gern sie die Absätze gelesen haben, die öffentlich bekannt geworden sind, und die noch mehr davon haben möchten. Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Ich bin entsetzt darüber, dass ich je solchen Müll von mir gegeben habe. In meiner Lieblings-Comedyserie sagte eine Figur einmal: » Seit entschieden wurde, dass Gedichte sich nicht reimen müssen, hält sich jeder für einen Dichter. « Wie wahr. Er hätte dabei mit dem Finger auf mich zeigen können.
Ich habe über den üblichen Teenager-Blödsinn geschrieben: Depressionen, Einsamkeit, Sorgen, freischwebende Ängste, Selbstmordgedanken. Als ich eigentlich schon keine Lust mehr darauf hatte, kritzelte ich aus dem einzigen Grund weiter, der Jungen seit Anbeginn der Zeit motiviert: ein Mädchen. Am Ende hat sie das Notizbuch behalten, und ich habe es völlig vergessen. Erst als ich zwei Jahre später vor Gericht stand, habe ich es wiedergesehen. Da machte man mir nicht nur den Prozess wegen etwas, das ich nicht getan hatte, sondern die Staatsanwaltschaft rieb auch noch Salz in meine Wunden, indem sie in einem vollbesetzten Gerichtssaal vor Fernsehkameras und Zeitungsreportern meine privatesten Gedanken und Gefühle vorlesen ließ. Aus irgendeinem Grund galt das als » Beweismaterial « . Eine schlechte Frisur, schwarze Garderobe, » Gedichte « über Teenager-Ängste und eine Vorliebe für langhaarige Bands genügen schon, um einen ins Gefängnis zu sperren. Sogar in die Todeszelle.
Das Notizbuch
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