Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
aber auf arrogante Weise. Er kleidete sich, als hätte er jeden Tag ein Business-Meeting, sein blondes Haar war makellos frisiert, und er trug eine kleine runde Brille mit Goldrand. Wenn er mit der Aufgabe fertig war, die man uns gegeben hatte, holte er einen Roman heraus und las in aller Ruhe bis zum Ende der Stunde. Wenn er jemanden zur Kenntnis nahm, dann tat er es verachtungsvoll. Ich konnte mir nicht verkneifen, ihn zu behelligen. Als ich das Buch sehen wollte, das er da las, lehnte er ab und sagte, es sei ein Geburtstagsgeschenk, und ich sähe aus wie jemand, der es beschädigen würde. Als ich sagte, ich wolle gern mal seine Brille aufprobieren, lehnte er auch das ab und sagte, er habe keine Lust, meine fettigen Fingerabdrücke von den Gläsern zu wischen. Anscheinend hielt er mich für einen Barbaren mit schlechten Manieren. Zu solchen Wortwechseln kam es täglich, während um uns herum der Unterricht im Gange war. Einmal zischte er mich wütend an: » Wieso kannst du nicht flüstern? Selbst wenn du leise sprichst, schreist du noch. « Das kam nach mehreren Verwarnungen von der Lehrerin. Er war noch nie aus der Klasse geflogen, und er wollte nicht, dass es jetzt zum ersten Mal passierte.
Eines Tages sah ich eine Kassette, die auf seinen Büchern lag. Ich beugte mich hinüber, um den Bandnamen zu lesen, aber es war einer, den ich noch nie gehört hatte. Er reichte mir die Schachtel, damit ich die Texte lesen konnte. Es sei eine christliche Rockband, sagte er, und es sei die einzige Musik, die er höre.
Ich war entsetzt und empört, dass es so etwas gab. Wie konnten sie es wagen, die Heiligkeit des Rock ’n’ Roll zu besudeln? Er habe eine ziemlich umfassende Sammlung, behauptete er, sei in vielen fundamentalistischen Jugendprogrammen aktiv und versäume niemals, zur Kirche zu gehen. Er hatte sogar die Stirn, mich dazu einzuladen. Mein erster Impuls war der Stinkefinger, aber plötzlich bremste ich mich. Warum eigentlich nicht? Die Sache könnte sehr interessant werden. Meine eigene Religion erschien mir so persönlich, so privat, dass seine dagegen sich nach einem Virus anhörte, dessen einziger Zweck es war, weitere Anhänger zu rekrutieren. Es ging nur darum, andere zu » retten « , und wenn du jemanden » gerettet « hattest, gingst du einfach weiter und » rettetest « andere.
Die Veranstaltung, zu der wir gingen, war eine Art Jugendversammlung. Die Baptistenkirche hatte eine Turnhalle, und da gingen wir hin. Teenager spielten Basketball, Tischtennis und sogar ein paar Brettspiele. Ich beteiligte mich nirgends. Stattdessen setzten Brian und ich uns hinten auf stählerne Klappstühle, um alle andern zu beobachten. Während wir uns unterhielten, kam eine Gruppe von ungefähr fünf Mädchen auf uns zu. Wie sie ihn begrüßten, waren es anscheinend Freundinnen von ihm.
Wider Erwarten merkte ich bald, dass es mir dort gefiel. Ich freundete mich mit einem der Mädchen an, und diese Freundschaft sollte zwei Jahre halten – wir telefonierten zwei oder drei Mal die Woche und immer stundenlang. Im Gegensatz zu dem, was ich nach früheren Erfahrungen erwartet hatte, hielt niemand Predigten, niemand versuchte mich zu bekehren oder schien auch nur einen Gedanken an Religion zu verschwenden. Wir saßen da und unterhielten uns, während alle andern um uns herum ihrem eigenen Kram nachgingen.
Außerdem war es anscheinend ein Hotspot für Teenager-Romanzen. Wie überall, wo junge Leute zusammenkommen, sah man Jungen und Mädchen, die einander anschauten, als wollten sie sich gegenseitig verschlingen. Wir gingen im Laufe des Jahres noch ein paarmal dorthin, und es gab nur einen einzigen unbehaglichen Augenblick.
Der kam, als ich eines Abends dort in meinem langen schwarzen Mantel aufkreuzte, mit schwarzer Hose, schwarzem Hemd und glänzenden kniehohen Stiefeln, die aussahen, als hätte ich sie einem toten Nazi geklaut. Das war jetzt meine Alltagskleidung. Ich zog mich nicht mehr an wie ein Skater, und ich trug überhaupt nur noch Schwarz. Immer wenn ich ein Kleidungsstück ersetzte, war das nächste schwarz, und bis nach meiner Verhaftung trug ich keine andere Farbe mehr. Auch mein Äußeres hatte sich nach und nach verändert. Ich hatte mir das Haar lang und zerzaust wachsen lassen, bis ich aussah wie Johnny Depp in Edward mit den Scherenhänden.
Ich sah, dass Brian mit einem älteren Mann sprach, mit dem » Jugendpastor « , wie ich später erfuhr. Als Brian zurückkam und sich zu mir setzte, sagte er, dem
Weitere Kostenlose Bücher