Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
Von meinen Sachen hatte sie als Einziges einen Koffer mit Kleidern und meiner Musik mitgenommen. Ich war platt.
Als ich später nach Arkansas zurückkehrte, erzählte Jason mir, er sei eines Tages bei uns vorbeigekommen und habe gesehen, dass alles, was mir gehörte, auf einem großen Haufen am Bordstein lag – der Fernseher, die Anlage, ein Baseballschläger, ein antikes japanisches Gewehr, mein Skateboard, die E-Gitarre und noch andere Sachen, die im Haus gewesen waren. Ich fragte ihn, ob jemand alles durchgesehen und vielleicht etwas mitgenommen habe, aber er schüttelte den Kopf. » Wir dachten, es taugte nichts mehr, denn sonst wär’s ja nicht weggeworfen worden. « Meine Empörung wäre noch größer gewesen, wenn nicht in zwei Tagen mein neuer Job anfangen hätte. Ich ging davon aus, bald alles ersetzen zu können, denn ich würde ganztags arbeiten.
Mein Vater war Geschäftsführer einer lokalen Kette von Autowerkstätten und Tankstellen, und er gab mir diesen Job. Ich würde alle zwei Wochen weit über vierhundert Dollar nach Hause bringen, und der Job war ganz leicht. Ich sollte in einer Schicht mit einem alten Vietnam-Veteranen namens Dave arbeiten, und zwar in einer Werkstatt, die nur wenige Kunden hatte. Meistens saßen wir da und schauten dem vorbeifahrenden Verkehr zu, und dabei tranken wir kalte Softdrinks und hörten Countrymusic im Radio. Dave war ein zynischer, streitsüchtiger alter Mistkerl und kam dem, was man als Freund bezeichnen kann, näher als jeder andere in Oregon. Trotz des Altersunterschieds kamen wir ziemlich gut miteinander aus. Daves Vokabular bestand zum größten Teil aus unflätigen Wörtern, die er wie Gewehrkugeln auf alles und jeden abfeuerte.
Jetzt, da ich einen Vollzeitjob hatte, ging ich nicht mehr zur Schule. Der Entschluss, damit aufzuhören, kam nicht von mir; eher waren es meine Eltern, die ihn trafen. Sie sagten zwar nicht ausdrücklich: » Du hörst jetzt auf mit der Schule « , aber das brauchten sie auch nicht. Sie meldeten meine Schwester und meinen kleinen Bruder an der neuen Schule an und mich nicht, und damit war alles klar. Ich war verärgert, aber ich sagte nichts. So verdiente ich wenigstens Geld.
Mein kleiner Bruder entwickelte ein paar sonderbare Gewohnheiten. Er schaute sich Texas Chainsaw Massacre 2 an, immer und immer wieder, obwohl es ihm solche Angst einjagte, dass er nachts nicht schlafen konnte. Er ahmte Figuren aus dem Film nach, wanderte im Haus herum und kratzte sich mit einem Kleiderbügel am Kopf, während er so tat, als esse er Kopfschuppen. Er hatte eine kleine Plastiksonnenblume, die eine Sonnenbrille und eine Fliege trug, und wenn man sie neben das Radio stellte, tanzte sie im Takt der Musik. Er nahm sie überallhin mit, und soweit ich weiß, war sie sein einziger Spielgefährte. Meine Schwester fing an, mit ein paar ziemlich dubiosen Typen herumzuhängen. Ständig trank sie und machte Party mit ihnen. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie so etwas wie Freiheit erlebte, und das nutzte sie aus. Jack hatte sie ja kaum aus dem Haus gehen lassen.
Als wir ungefähr einen Monat in Oregon waren, fand ich, es sei an der Zeit, bei Deanna anzurufen. Als ihre Mutter sich meldete, ließ ich meine Schwester nach Deanna fragen. Kaum war sie am Apparat, nahm ich den Hörer und sagte: » Ich bin’s. « Ihre Stimme klang komisch, fast wie die eines kleinen Mädchens, als sie fragte: » Wo bist du? « Ich sei in Oregon, sagte ich und fragte, ob jemand bei ihr sei, was sie bestätigte. Beim Klang ihrer Stimme begann mein Herz zu singen. Das lag nicht nur an ihr – ich sprach mit zu Hause, mit meiner vertrauten Welt. Ich telefonierte mit jemandem, der nicht mit Yankee-Akzent sprach. Ich fühlte mich wieder lebendig. Ich war ich selbst, und das war in letzter Zeit nur noch selten so gewesen.
Es ist schwer zu beschreiben, was sich verändert hatte. Seit ich durch die Tür der psychiatrischen Anstalt gegangen war, fühlte ich mich wie ein alter Mann, der durch die Gänge eines Pflegeheims schlurft. Das Reden mit ihr schickte eine Welle von Energie durch meinen Körper, die den Rost wegschwemmte, und ich war wieder bereit, mich zu bewegen. Aber damit war es nach weniger als sechzig Sekunden wieder vorbei. » Möchtest du immer noch, dass ich dich holen komme? « , fragte ich. Wenn sie jetzt ja sagte, würde ich sofort aufbrechen, und wenn ich zu Fuß gehen müsste.
Aber sie sagte nicht ja. Sie sagte: » Ich weiß nicht. « Sie zögerte und war
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