Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
zugewiesen zu werden. Ich war zu verzweifelt, um aufzunehmen, was sie da sagten, oder um zu begreifen, dass sie sich hilfreich erweisen könnten.
Als ich nach einer Woche aus der Gummizelle gelassen wurde, kam ich zurück in den Zellenblock mit Chad. Er war hocherfreut, denn jetzt hatte er drei Zellengenossen. In meiner Abwesenheit waren zwei neue Typen dazugekommen, zwei schwarze Teenager. Der eine hieß James, der andere Nikia (aber alle nannten ihn Kilo). Kilo wurde der zweitbeste Freund, den ich in meinem Leben je hatte. Der Typ war sehr gescheit und äußerst komisch. Oft sagten wir gleichzeitig dasselbe, und wenn ich etwas zu erklären versuchte, wurde er ganz aufgeregt und rief: » Ja! Genau! Das ist es! « Er rutschte auf den Knien durch den Zellenblock und lieferte eine tadellose Michael-Jackson-Imitation, bis ich vor Lachen Seitenstiche bekam.
Irgendwoher bekamen wir ein Schachbrett, und ich brachte ihm das Spiel bei. Ich hatte es irgendwann gelernt, indem ich die Spielregeln auf der Schachtel gelesen hatte. Nachdem wir einen Monat lang jeden Tag mehrere Partien gespielt hatten, konnte ich ihn nicht mehr schlagen. Er machte mich jedes Mal fertig, außer wenn wir nach meinen Regeln Blitzschach spielten. Das war eine Variante, die ich erfunden hatte und deren Sinn darin bestand, dich daran zu hindern, über deinen nächsten Zug nachzudenken. Der Gegner musste ziehen, bevor man bis fünf zählen konnte, und wenn er es nicht schaffte, bekam er eine Kopfnuss. Man zählte sehr schnell bis fünf, sodass für den Zug nur knapp zwei Sekunden Zeit blieben.
Chads Familie hatte ihm auch ein paar Spiele gebracht, und so verbrachten wir vier unsere Zeit mit Monopoly, Dame und Domino. Wir warfen unser Geld zusammen, sodass auch der, der am wenigsten hatte, nicht ohne Einsatz zu spielen brauchte. Wenn meine Familie mir zwanzig Dollar daließ, kaufte ich davon Chips und Süßigkeiten, die dann uns allen gehörten. Kilo, Chad und James taten es ebenfalls. Wir hatten nie einen einzigen Streit, was sehr selten ist, wenn man vierundzwanzig Stunden täglich gezwungenermaßen aufeinanderhockt.
Die Wärter im Gefängnis von Monroe County waren anders als alle, die ich danach gesehen habe. Sie waren freundlich, höflich und gepflegt und in keiner Weise grob. Ich ließ mich täuschen und dachte, alle Wärter seien so. Mir war nicht klar, dass ich es hier mit einem Wunder zu tun hatte. Sie behandelten uns wie Menschen und ließen uns Dinge tun, die Gefangene anderswo niemals dürfen, zum Beispiel die ganze Nacht aufbleiben. Wir vier wurden niemals einzeln eingeschlossen; wir richteten ein kleines Lager auf der gemeinsamen Fläche zwischen unseren Zellen ein und lebten dort wie auf einer endlosen Übernachtungsparty.
Kilo und ich freuten uns immer sehr auf Samstag Schlag Mitternacht, denn dann kam eine Fernsehsendung mit dem Titel Night Flight. Wir waren so ausgehungert nach Musik, dass wir uns alles angehört hätten, und nur hier hatten wir Gelegenheit dazu. Es war weder seine noch meine Lieblingsmusik, aber es war alles, was wir hatten. Wie sehr man Musik braucht, weiß man immer erst, wenn man keine mehr hat. Mir fehlte sie so sehr, dass es mir im Herzen wehtat.
Meine Mutter, mein Vater und Domini kamen einmal die Woche zu Besuch. Wir hatten zwanzig Minuten und mussten durch eine kugelsichere Glasscheibe miteinander reden. Bei meiner Verhaftung war Domini im fünften Monat gewesen, aber man sah es ihr immer noch nicht an. In den letzten drei oder vier Monaten der Schwangerschaft schwoll ihr Bauch dann in einem alarmierenden Tempo. Im Juli hatte ihr Körper immer noch die gleiche Größe, nur ihr Bauch war riesig und straff geworden.
Am 4. August wurde ich mit Jason und Jessie zu einer Vorverhandlung gebracht, in der wir uns alle drei » nicht schuldig « bekannten. Den Vorsitz führte Richter David Burnett, dem der Fall nach dem ersten Hearing mit Rainey übertragen worden war. Er gehörte zu Craighead County, und sein Verhalten war geschäftsmäßig und anmaßend: In seinen Augen waren wir bereits überführt. Er hatte bei dem Prozess nur noch die Formalitäten und den Papierkram zu erledigen. Bei dieser Gelegenheit trennte er Jessies Verfahren von meinem und Jasons ab. Jessies Anwälte hatten erfolgreich argumentiert, die Publicity, die uns alle umgab, könne seiner eigenen Verteidigung abträglich sein. Ich saß nur einen Schritt weit von Jessie und Jason in diesem Hinterzimmer, aber es war unmöglich, mit ihnen zu
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