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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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vielleicht schon jetzt.
    »Ich werde es ihnen sagen. Es sollte von mir kommen.«

    17. September 2004
     
    Liebe Freunde und Kollegen, nach reiflicher Überlegung und mit tiefem Bedauern habe ich mich entschieden, von meiner Lehr-,
Forschungs- und Reisetätigkeit in Harvard zurückzutreten. Im Januar dieses Jahres wurde bei mir die früh einsetzende Alzheimer-Krankheit
diagnostiziert. Vermutlich befinde ich mich noch im frühen bis gemäßigten Stadium der Krankheit, aber ich habe bereits jetzt unvorhersehbare
kognitive Ausfälle, die es mir unmöglich machen, den Anforderungen an diese Position mit den hohen Maßstäben gerecht zu werden, die ich mir stets
gesetzt habe und die hier erwartet werden.
    Sie werden mich zwar nicht mehr auf dem Podium in den Hörsälen oder mit neuen Anträgen für Fördermittel beschäftigt sehen, aber ich werde weiterhin Dan Maloneys Doktorarbeit betreuen und auch künftig an Besprechungen und Seminaren teilnehmen, wo ich hoffe, weiterhin eine aktive und gern gesehene Teilnehmerin zu sein.
     
    Hochachtungsvoll,
    Alice Howland

    In der ersten Woche des Herbstsemesters übernahm Marty Alice’ Lehrverpflichtungen. Als sie sich mit ihm traf, um ihm den Lehrplan und ihr Vorlesungsmaterial zu übergeben, umarmte er sie und sagte, wie leid es ihm täte. Er fragte sie, wie es ihr ginge und ob er irgendetwas tun könne. Sie dankte ihm und sagte, es ginge ihr gut. Und sobald er alles hatte, was er für den Kurs brauchte, verließ er ihr Büro, so schnell er konnte.
    Ungefähr nach demselben Schema lief es mit jedem anderen im Institut ab.
    »Es tut mir so leid, Alice.«
    »Ich kann es nicht glauben.«
    »Ich hatte keine Ahnung.«
    »Kann ich irgendetwas tun?«
    »Sind Sie sicher? Sie sehen überhaupt nicht anders aus.«
    »Es tut mir so leid.«
    »Es tut mir so leid.«
    Und dann verließen sie sie so rasch wie möglich. Sie waren höflich und freundlich zu ihr, wenn sie ihr über den Weg liefen, aber sie liefen ihr nicht sehr oft über den Weg. Das lag hauptsächlich an ihren vollen Terminkalendern und an Alice’ inzwischen fast leerem. Aber ein nicht unwesentlicher Grund war der, dass sie es bewusst vermieden. Ihr in die Augen zu sehen, hieß, sich mit ihrer geistigen Schwäche zu konfrontieren und mit dem unvermeidlichen Gedanken, dass auch ihnen selbst in null Komma nichts dasselbe zustoßen konnte. Ihr zu begegnen, war furchteinflößend. Und daher taten sie es, abgesehen von Besprechungen und Seminaren, lieber nicht.
     
    Heute war das erste Psychologie-Lunch-Seminar dieses Semesters. Leslie, eine von Erics Forschungsstudentinnen, stand gebannt und bereit am Kopf des Konferenztischs, die Titelfoliebereits auf die Leinwand geworfen. Auf der Suche nach Antworten: Wie Aufmerksamkeit unsere Fähigkeit beeinflusst zu identifizieren, was wir sehen . Alice war ebenso gebannt und bereit, an dem ersten Platz am Tisch, Eric gegenüber. Sie begann, ihren Lunch zu essen, eine Auberginen-Calzone und einen Gartensalat, während Eric und Leslie sich unterhielten und der Raum sich allmählich füllte.
    Nach ein paar Minuten fiel Alice auf, dass jeder Platz am Tisch bis auf den neben ihr besetzt war und dass bereits Leute hinten im Raum standen. Plätze am Tisch waren sehr begehrt, nicht nur, weil man von dort aus die Präsentation besser sehen konnte, sondern auch, weil man im Sitzen nicht unangenehm mit Teller und Besteck, Getränk, Stift und Notizblock jonglieren musste. Aber offenbar war das immer noch weniger unangenehm, als neben ihr zu sitzen. Sie sah, wie jeder ihrem Blick auswich. Ungefähr fünfzig Leute drängten in den Raum, Leute, die sie seit vielen Jahren kannte, Leute, die sie als Familie angesehen hatte.
    Dan stürzte herein, mit zerzaustem Haar, aus der Hose hängendem Hemd und Brille statt Kontaktlinsen. Er blieb kurz stehen, steuerte dann sofort auf den freien Platz neben Alice zu und erklärte ihn zu seinem, indem er sein Notizbuch auf den Tisch warf.
    »Ich habe die ganze Nacht durchgeschrieben. Muss mir nur schnell was zu essen holen, bin gleich wieder da.«
    Leslies Vortrag nahm die ganze Stunde in Anspruch. Es erforderte eine Unmenge an Energie, aber Alice folgte ihr bis zum Schluss. Nachdem Leslie die letzte Folie präsentiert hatte und die Leinwand leer war, eröffnete sie die Plenumsdiskussion. Alice meldete sich als Erste zu Wort.
    »Ja, Dr. Howland«, sagte Leslie.
    »Ich denke, Ihnen fehlt eine Kontrollgruppe, die die tatsächliche Ablenkbarkeit Ihrer Ablenker misst. Man

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