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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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könnte dagegenhalten, dass manche, aus welchem Grund auch immer,gar nicht wahrgenommen werden und ihre bloße Anwesenheit keine Ablenkung darstellt. Man könnte die Fähigkeit der Subjekte testen, den Ablenker gleichzeitig wahrzunehmen und zu beachten, oder man könnte eine Reihe laufen lassen, bei der man den Ablenker gegen das Ziel austauscht.«
    Viele am Tisch nickten. Dan brummte zustimmend, einen Bissen Calzone im Mund. Leslie griff nach ihrem Stift und machte sich eifrig Notizen, noch bevor Alice ihre Gedanken zu Ende geführt hatte.
    »Ja, Leslie, gehen Sie noch mal kurz zurück zu der Folie mit dem experimentellen Design«, sagte Eric.
    Alice sah sich im Raum um. Alle Augen waren auf die Leinwand geheftet. Sie hörten gebannt zu, während Eric Alice’ Kommentar genauer ausführte. Viele nickten noch immer. Sie fühlte sich siegreich und ein wenig selbstgefällig. Dass sie Alzheimer hatte, hieß noch lange nicht, dass sie nicht mehr analytisch denken konnte. Dass sie Alzheimer hatte, hieß noch lange nicht, dass sie nicht das Recht hatte, unter ihnen in diesem Raum zu sitzen. Dass sie Alzheimer hatte, hieß noch lange nicht, dass sie nicht mehr das Recht hatte, gehört zu werden.
    Die Fragen und Antworten und die darauf folgenden Fragen und Antworten gingen noch ein paar Minuten weiter. Alice aß ihre Calzone und ihren Salat auf. Dan stand auf und kam mit einem Nachtisch wieder. Leslie stolperte durch die Antwort auf eine antagonistische Frage, die Martys neue Postdoktorandin gestellt hatte. Ihre Folie mit dem experimentellen Design wurde auf die Leinwand geworfen. Alice las sie und hob die Hand.
    »Ja, Dr. Howland?«, fragte Leslie.
    »Ich denke, Ihnen fehlt eine Kontrollgruppe, die die tatsächliche Effektivität Ihrer Ablenker misst. Es ist möglich, dass manche gar nicht wahrgenommen werden. Man könnte ihre Ablenkbarkeit gleichzeitig testen, oder man könnte den Ablenker gegen das Ziel austauschen.«
    Der Einwand war berechtigt. Um genau zu sein, war das die richtige Methode, den Versuch durchzuführen, und ihr Aufsatz würde ohne eine Berücksichtigung dieser Möglichkeit nicht zu veröffentlichen sein. Davon war Alice überzeugt. Und doch schien niemand sonst es so zu sehen. Sie sah, wie jeder ihrem Blick auswich. Die Körpersprache der anderen schien Verlegenheit und Angst auszudrücken. Sie las sich die Daten auf der Leinwand noch einmal durch. Der Versuch benötigte eine zusätzliche Kontrolle. Dass sie Alzheimer hatte, hieß noch lange nicht, dass sie nicht analytisch denken konnte. Dass sie Alzheimer hatte, hieß noch lange nicht, dass sie nicht wusste, wovon sie redete.
    »Ah, okay, danke«, sagte Leslie.
    Aber sie machte sich keine Notizen, und sie sah Alice nicht in die Augen, und sie schien nicht ein bisschen dankbar.

    Sie hatte keine Kurse zu geben, keine Fördermittel zu beantragen, keine neuen Forschungen durchzuführen, keine Konferenzen zu besuchen, keine Gastvorträge zu halten. Nie wieder. Sie fühlte sich, als sei der größte Teil von ihr, der Teil, den sie hochgehalten und regelmäßig auf seinem mächtigen Podest poliert hatte, gestorben. Und die kleineren, weniger bewunderten Teile von ihr wimmerten vor lauter schmerzhaftem Selbstmitleid und fragten sich, was sie ohne diesen anderen Teil überhaupt noch zu bedeuten hatten.
    Sie sah aus ihrem riesigen Bürofenster und beobachtete die Jogger, die an den gewundenen Ufern des Charles River entlangliefen.
    »Wirst du heute Zeit zum Laufen haben?«, fragte sie.
    »Vielleicht«, sagte John.
    Er sah ebenfalls aus dem Fenster, während er seinen Kaffee trank. Sie fragte sich, was er wohl sah, ob sein Blick aufdieselben Jogger gerichtet war oder ob er vielleicht etwas völlig anderes sah.
    »Ich wünschte, wir würden mehr Zeit zusammen verbringen«, sagte sie.
    »Was meinst du damit? Wir haben doch eben erst den ganzen Sommer zusammen verbracht.«
    »Nein, nicht den Sommer, unser ganzes Leben. Ich habe darüber nachgedacht, und ich wünschte, wir würden mehr Zeit zusammen verbringen.«
    »Ali, wir leben zusammen, wir arbeiten an demselben Ort, wir haben unser ganzes Leben zusammen verbracht.«
    Anfangs ja. Damals lebten sie ihr Leben zusammen, miteinander. Aber im Laufe der Jahre hatte es sich verändert. Sie hatten zugelassen, dass es sich veränderte. Sie dachte an ihre getrennt verbrachten Forschungsjahre, die Arbeitsaufteilung mit den Kindern, die Reisen, ihre individuelle Hingabe an ihre Arbeit. Sie hatten lange Zeit

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