Mein Leben ohne Limits
bin gespannt, was sich noch alles tun kann. Nicht nur bei mir.
KAPITEL 6
Armlos, nicht harmlos
M
eine erste und einzige Schlägerei auf dem Schulhof war mit Chucky. Er war der Grundschultyrann. Sein richtiger Name war nicht Chucky, aber er hatte feuerrote Haare, Sommersprossen und große Ohren wie die Puppe aus den Horrorfilmen. Deswegen nenne ich ihn Chucky, zu seinem Schutz (hätte nicht gedacht, dass ich ihn einmal schützen würde!).
Chucky war der erste Mensch, der mir wirklich Angst machte. Angst kennt jeder von uns, ob sie nun berechtigt ist oder man sie sich einredet. Nelson Mandela hat einmal gesagt: Mutig ist ein Mensch nicht dann, wenn er keine Angst hat, sondern dann, wenn er sie überwindet. Angst hatte ich also schon einmal vor Chucky, der mich windelweich prügeln wollte. Sie zu überwinden, war ein anderes Thema.
Angst ist eigentlich nichts Schlechtes. Es gibt Grundängste, die in uns als Veranlagung drinstecken und Überlebenswerkzeuge sind. Dazu gehört die Angst vor Feuer, vor dem Herunterfallen oder vor wilden Tieren. Über diese Ängste kann man froh sein.
Zu viel Angst ist aber auch nicht gut. Unsere ewige Angst vor Versagen, Enttäuschung und Ablehnung lähmt uns viel zu oft. Anstatt solchen Ängsten zu begegnen, überlassen wir ihnen das Feld und setzen unserer Entwicklung Grenzen. Dabei sollte uns keine Angst davon abhalten, unsere Träume zu verwirklichen!
Angst ist wie ein Rauchmelder. Wenn der Angstmelder losgeht, sollte man aufmerksam werden und sich umsehen. Ist Gefahr im Verzug oder ist’s nur ein Fehlalarm? Gibt es nichts zu befürchten, dann darf man den Rauchmelder – oder die Angst – getrost ausschalten und weitermachen.
Chucky, der Raufbold der Grundschule, lehrte mich, Angst zu überwinden. Aber erst nach der ersten und letzten Schlägerei meiner Kindheit. Eigentlich konnte ich fast alle aus meiner Schule gut leiden, sogar die komplizierten Fälle. Aber Chucky schien direkt aus der Schlägerfabrik zu kommen. Er war sehr unsicher und brauchte deswegen immer jemanden, den er schikanieren konnte. Chucky war größer als ich, aber das waren alle anderen ja auch.
Als Bedrohung konnte man mich nicht gerade bezeichnen. Ich war ein schmächtiger Erstklässler, wog gerade einmal zehn Kilogramm und saß im Rollstuhl. Chucky war ein paar Jahre älter als ich und im Vergleich zu mir ein Riese.
„Ich wette, du kannst nicht kämpfen“, zog er mich eines Tages während der Hofpause auf.
Meine Freunde waren dabei, also zeigte ich mich von der mutigen Seite. Trotzdem weiß ich noch, wie ich dachte: Ich sitze schon im Rollstuhl und er ist immer noch doppelt so groß wie ich! Das sieht nicht gut aus …
„Wetten doch?“, war alles, was mir einfiel.
Ich hatte nicht gerade viel Erfahrung mit Schlägereien. Mein Elternhaus war friedlich. Gewalt ist keine Lösung, hatte ich gelernt. Aber ein Feigling war ich auch nicht. Mit meinem Bruder und meinen Cousins hatte ich oft aus Spaß Ringkämpfe veranstaltet. Mein kleiner Bruder erinnert sich heute noch an meinen besten Ringerwurf. Als Aaron noch klein genug war, konnte ich ihn auf die Matte schicken und mit dem Kinn seinen Arm einklemmen.
„Manchmal hättest du mir fast den Arm gebrochen mit deinem Kinn wie ein Schraubstock“, sagt Aaron. „Aber als ich größer wurde, brauchte ich nur die Hand gegen deine Stirn drücken und schon kamst du nicht mehr an mich heran.“
Das war das Problem mit Chucky. Ich hatte keine Angst, mich mit ihm zu prügeln. Ich wusste nur nicht, wie! Bei jedem Kampf, den ich im Fernsehen oder im Kino gesehen hatte, ließ jemand die Fäuste oder Füße sprechen. Für beides fehlte mir das richtige Werkzeug.
Chucky schien das egal zu sein. „Wenn du kämpfen kannst, dann zeig’s mir doch!“
„Okay, wir sehen uns in der Mittagspause auf dem Oval“, knurrte ich.
„Abgemacht“, erwiderte Chucky. „Wehe, du bist nicht da.“
Das Oval war eine eiförmige Betonfläche mitten auf unserem Schulspielplatz. Dort zu kämpfen war wie in der Schulzirkusmanege aufzutreten. Das Oval war die große Bühne. Was im Oval passierte, blieb nicht im Oval. Wenn ich hier den Kürzeren zog, würde das auf immer und ewig an mir haften bleiben.
Den ganzen Morgen machte ich mir im Unterricht Sorgen über meine Verabredung mit dem Schulhoftyrannen. In Rechtschreibung, Geografie und Mathe konnte ich an nichts anderes denken. Die Nachricht, dass ich es mit Chucky aufnehmen wollte, verbreitete sich in der Schule wie ein
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