Mein Leben ohne Limits
hemmungslos.
Anstatt mich wie ein Sieger zu fühlen, überkamen mich Schuldgefühle. Der Pastorensohn bat um Verzeihung: „Das tut mir leid! Ist alles okay?“
„Da! Chucky blutet ja!“, rief ein Mädchen.
Niemals, dachte ich.
Und tatsächlich: Durch seine Wurstfinger rann Blut aus der Nase. Er nahm die Hand weg und das Blut lief an seinem Gesicht herunter, bis es eine leuchtend rote Spur auf dem T-Shirt hinterließ.
Die eine Hälfte der Zuschauermenge johlte. Die andere Hälfte schämte sich – für Chucky. Schließlich war er gerade von einem Wurm ohne Arme und Beine verprügelt worden. Nun würde es ihm auf immer und ewig anhaften. Chuckys Tage als Schulhoftyrann waren gezählt. Er drückte die Nasenflügel mit den Fingern zusammen und rannte zur Toilette.
Ganz ehrlich: Ich habe ihn nie wieder gesehen. Er muss aus Scham die Schule gewechselt haben. Chucky, wenn du das liest, es tut mir leid. Ich hoffe, du hast ein schönes posttyrannisches Leben!
Auf der einen Seite war ich stolz, mich selbst verteidigt zu haben. Auf der anderen Seite lasteten schwere Schuldgefühle auf mir. Nach der Schule fuhr ich nach Hause und beichtete es meinen Eltern noch in der Eingangstür. Ich rechnete mit einer harten Strafe. Aber ich hätte mir keine Sorgen machen müssen. Meine Eltern glaubten mir kein Wort! Sie hielten es für schlicht unmöglich, dass ich einen größeren, älteren und vollkommen gesunden Jungen verprügelt hatte.
Ich gab mir keine Mühe, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Die Leute hören diese Geschichte immer gern. Sie ist ja zumindest in Teilen auch sehr lustig. Trotzdem erzähle ich sie mit gemischten Gefühlen, weil ich gegen Gewalt bin. Ich halte Sanftmut für eine viel zu sehr vernachlässigte Charaktereigenschaft. An meine erste – und einzige – Schlägerei erinnere ich mich nur, weil ich gemerkt habe, dass ich meine Angst überwinden kann, wenn es hart auf hart kommt. Gerade für mich war es im damaligen Alter wichtig zu wissen, dass ich mich verteidigen kann. Und weil ich meine innere Stärke kennengelernt habe, kann ich es mir leisten, sanftmütig zu sein.
KEINE ARME, KEINE BEINE, KEINE ANGST
Vielleicht hast du deine Bestimmung längst gefunden. Es mangelt dir nicht an Hoffnung für die Zukunft, du siehst deinen Wert und hast eine positive Lebenseinstellung, aber trotzdem hält die Angst dich davon ab, deine Träume zu verwirklichen. Es gibt viel schlimmere Behinderungen, als keine Arme und Beine zu haben. Angst kann einen ganz besonders lähmen und behindern. Wenn Angst das letzte Wort bei Entscheidungen hat, bleibt die Erfüllung aus.
Angst hält einen davon ab, der zu sein, der man sein will. Dabei ist Angst nur ein Signal, oft nur eine Stimmung, ein Gefühl –, aber kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken! Wie oft hast du dich vor etwas gefürchtet – dem Zahnarztbesuch, dem Bewerbungsgespräch, einer Operation oder einer Klausur – und hinterher war es gar nicht so schlimm?
Ich dachte, nach meiner Begegnung mit Chucky könnte man mich vom Beton abkratzen. Und was ist daraus geworden! Erwachsene klammern sich häufig an Ängsten aus Kindertagen fest. Sie benehmen sich wie Kinder, die den Kopf unter die Bettdecke stecken, weil der Zweig am Fenster so kratzt, als wäre er ein gefräßiges Monster.
Schon oft habe ich erlebt, wie Angst einen völlig normalen Menschen lähmt. Und damit meine ich nicht die Kinostarre beim Horrorfilm oder die kindliche Angst vor Albträumen. Viele Leute lassen sich von der Angst vor Misserfolg außer Gefecht setzen, der Angst vor Fehlern, vor einer Verpflichtung, sogar der Angst vor Erfolg. Natürlich klopft bei jedem die Angst an die Tür. Aber man muss sie nicht hereinbitten. Man kann sie fortschicken und selbst seines Weges ziehen. Das liegt in unserer Macht.
Die Psychologen sagen, die meisten unserer Ängste seien erlernt. Wir werden nur mit zwei Grundängsten geboren: der Angst vor lauten Geräuschen und der Angst, fallen gelassen zu werden. Ich hatte Angst davor, von Chucky zerfleischt zu werden, aber ich habe diese Angst überwunden. Ich wollte nicht warten, bis ich irgendwann mutig war – ich habe einfach mutig gehandelt, und am Ende war ich mutig!
Auch als Erwachsene erschaffen wir uns Angstfantasien, die mit der Realität wenig zu tun haben. Wir konzentrieren uns so lange darauf, bis sie uns real erscheinen. Und damit geben wir ihnen Macht über uns.
Man kann sich nur schwer vorstellen, dass jemand, der so groß und stark ist wie
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