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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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können.
    Und das Publikum? Es interessierte mich, wie die Deutschen jetzt auf die Geschichte eines Juden reagierten, dessen Frau und dessen sieben Söhne verbrannt wurden. Aber gerade das ließ sich an diesem Abend nicht erkunden. Den Zuschauerraum des »Deutschen Theaters« füllten vor allem Offiziere in den Uniformen der vier Besatzungsmächte. Es waren vorwiegend Juden, die erstaunlich gut deutsch sprachen. Es waren Vertriebene und Geflohene, die sich jetzt in einem Berliner Theater, nicht weit von den Ruinen des Reichstags und der Reichskanzlei entfernt, versammelt hatten – im Zeichen Lessings.
    Mehr als drei Monate war ich damals in Berlin. Ich habe keinen meiner Schulfreunde gefunden – von meinen Angehörigen, die allesamt vertrieben oder vergast worden waren, ganz zu schweigen. Ich hatte keinerlei Kontakte, niemanden kannte ich in der Stadt meiner Jugend. So war es eine traurige und einsame Zeit, erschreckend, doch bisweilen auch beglückend. Sie machte mir meine Heimatlosigkeit bewußt. Denn daß Polen mir fremd geblieben war, das spürte und erkannte ich nirgends so deutlich wie gerade in Berlin. Ich frage mich heute, was wohl geschehen wäre, wenn man mir damals, 1946, von deutscher Seite irgendeine Tätigkeit im Kulturleben angeboten hätte. Vielleicht wäre ich in Berlin geblieben. Ich kann mir denken, was dann aus mir geworden wäre – gewiß nichts anderes als ein Kritiker, ein Literaturkritiker. Nur: Wer sollte mir etwas anbieten, da mich niemand kannte?
    Ich hatte schon angenommen, ich sei von der Warschauer Zentrale des Geheimdiensts vergessen worden. Da kam schließlich doch eine Weisung: Ich wurde nach Hause kommandiert. Warum man mich nach Berlin geschickt, aber dort überhaupt nicht beschäftigt hat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich war die Sache nicht hinreichend mit den Russen vereinbart, wahrscheinlich wünschten die Russen nicht, daß die Polen irgendwelche Informationen in Berlin sammelten.
    Anders als der Poet und Offizier Stanislaw Jerzy Lee wollte mir der strenge Major, mit dem ich gesprochen hatte, bevor ich nach Berlin gefahren war, keinen reinen Wein einschenken: Er hielt es für richtig, mir zu verheimlichen, daß der Auslands-Nachrichtendienst im Sicherheitsministerium zu jenem Zeitpunkt noch gar nicht existierte, daß er erst im Entstehen begriffen war. Auch damit hing es wohl zusammen, daß man sich in Warschau nicht um mich gekümmert hatte.
    Aber obwohl ich in Berlin nichts für ihn getan hatte, wollte mich der Geheimdienst weiterhin beschäftigen, jetzt nicht nur im Sicherheits-, sondern zugleich auch im Außenministerium. Man sah meine Zukunft im Ausland und stellte mir einen Posten im Auswärtigen Dienst in Aussicht – und zwar in einer Stadt, die, nachdem ich schon einige Zeit in Berlin gewesen war, nun den stärksten Reiz auf mich ausübte: in London. Dort wohnte das einzige Mitglied meiner Familie, das überlebt hatte: Meine ältere Schwester Gerda Böhm, der es kurz vor Ausbruch des Krieges gelungen war, mit ihrem Mann aus Deutschland nach England zu fliehen.
    Auf die Doppelaufgabe in London sollte ich in den beiden zuständigen Ministerien vorbereitet werden – im Sicherheitsministerium auf den Geheimdienst, im Außenministerium auf den Konsulardienst. In der Geheimdienst-Zentrale hatte ich einstweilen als Sektionsleiter und etwas später als stellvertretender Abteilungsleiter zu arbeiten. Die mir angekündigte Schulung, der ich ungeduldig und neugierig entgegensah, sollte bald beginnen, der Raum und der genaue Zeitpunkt wurden schon bekanntgegeben. Endlich würde ich erfahren, wie der Auslands-Nachrichtendienst zu versehen und zu organisieren sei, jetzt erst, das war für mich klar, würde man mich in die Geheimnisse dieser Arbeit einweihen. Ich wartete gespannt.
    Zwei oder drei Tage vor dem festgesetzten Termin hatte ich mich bei einem meiner Vorgesetzten zu melden. Ob ich mich auf die Schulung freue – fragte er hinterlistig. Ich bejahte mit Entschiedenheit. Nur sei ich mir doch wohl darüber im klaren – sagte er zu meiner höchsten Verblüffung –, daß mich niemand schulen werde. Es sei vielmehr meine Aufgabe, die Kollegen zu schulen.
    Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß ich von dieser Materie keine Ahnung hätte. Das sei ihm keineswegs neu – meinte er nicht ohne Ironie –, doch seien wir alle in dieser Hinsicht Anfänger. Ob ich etwa meine, daß die Parteimitglieder, die unlängst Minister geworden seien, irgend jemand auf ihre Aufgabe vorbereitet

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