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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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hätte? In einer Pionierzeit müsse man improvisieren. Mit einiger Intelligenz könne man es schon schaffen; er habe volles Vertrauen zu mir. Überdies gebe es einen sowjetischen Berater, mit dem solle ich gleich reden, er werde mir schon helfen. Mein Vorgesetzter lächelte in bester Laune.
    Zehn Minuten später saß ich im Zimmer des sowjetischen Beraters. Es war ein freundlicher, ein liebenswürdiger Mensch und nicht ohne Humor. Er konnte einigermaßen polnisch sprechen. Aber statt mir die dringend benötigten Ratschläge zu erteilen, wollte er von mir wissen, wie ich mir die geplante Schulung vorstelle. Meine ausweichenden Antworten ignorierend, wiederholte er seine Frage so starrsinnig wie verbindlich. Mir blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben und ihm einiges, was ich über den Auslands-Nachrichtendienst und über die Spionageabwehr wußte, wortreich zu erzählen. Freilich stammte alles aus einer einzigen und für diese Zwecke wohl nicht immer zuverlässigen Quelle: aus Romanen, Erzählungen und Reportagen.
    Der sowjetische Berater war entzückt und gratulierte mir: Ich sei für die Schulung vorzüglich geeignet. So wurde ich vorübergehend zum Instrukteur des polnischen Geheimdiensts. Ich dachte mir einen kleinen Lehrgang aus, der, glaube ich, eher kurzweilig als nützlich war. Wieder einmal profitierte ich ausgiebig von der deutschen Literatur. Den größten Erfolg erzielte ich mit der auf Egon Erwin Kisch zurückgehenden Geschichte von Oberst Redl und seiner Aufdeckung.
    Auch auf die Fragen, die ich den sowjetischen Beratern später stellte, reagierten sie auf die gleiche Weise. Sie wünschten, daß ich selber eine Antwort finde, eine Lösung vorschlage. Was ich vorschlug, wurde in der Regel als brauchbar akzeptiert. Denn die Berater waren nicht nach Warschau geschickt worden, um uns zu helfen, vielmehr war es ihre Aufgabe, nach Informationen Ausschau zu halten, die für den sowjetischen Geheimdienst von Interesse sein könnten – so war es zumindest in der Abteilung, in der ich gearbeitet habe.
    Die wichtigste Aufgabe des Nachrichtendienstes bestand darin, Informationen über die polnische politische Emigration in den westlichen Ländern, über ihre Strömungen, ihre Intentionen und Organisationen zu sammeln. Genauer: Es ging darum, rechtzeitig zu ermitteln, was die politischen Emigranten gegen den neuen polnischen Staat unternehmen wollten, was sie planten. Hierzu war dieser Dienst zum damaligen Zeitpunkt nur in sehr bescheidenem Umfang imstande. Denn dem absoluten Dilettantismus entsprach die Primitivität der Methoden: Niemand hatte konkrete Erfahrungen, und es gab überhaupt keine technischen Hilfsmittel. Ganz anders war die Situation im Außenministerium, wo ich in den letzten Monaten vor der Abreise nach London tätig war. Dort, im Departement für Konsular-Angelegenheiten, waren Fachleute aus der Vorkriegszeit am Werk. Von ihnen konnte ich alles Nötige lernen. Besonders amüsant oder gar aufregend ist der Konsulardienst übrigens nicht.
    Inzwischen aber war ich der Kommunistischen Partei Polens (die sich »Polnische Arbeiterpartei« nannte) beigetreten. Niemand hat mich dazu gezwungen, niemand hat mir diesen Schritt nahegelegt. Es war auch keineswegs eine spontane oder übereilte Entscheidung. Zunächst und vor allem: Tosia und ich, wir verdankten unser Leben unzweifelhaft der Roten Armee. Hätte sie nicht die Deutschen aus Polen vertrieben, wäre sie nur wenig später in Warschau einmarschiert, wir wären ebenso umgebracht worden wie meine Eltern und mein Bruder, wie Tosias Mutter.
    Überdies haben mich die Ideen des Kommunismus schon sehr früh interessiert. Sie waren damals, kurz nach 1945, äußerst attraktiv, ja, sie hatten für mich, ähnlich wie für viele Intellektuelle nicht nur in Polen, sondern auch in Frankreich, in Italien und anderen westeuropäischen Ländern, etwas Bestechendes. Sicher, für Aufmärsche, Kundgebungen und Demonstrationen war ich nie zu haben. Aber mich hat die Möglichkeit fasziniert, an einer weltweiten, einer universalen Bewegung teilzunehmen, einer Bewegung, von der sich unzählige Menschen die Lösung der großen Probleme der Menschheit versprachen. Ich glaubte, endlich gefunden zu haben, was ich schon lange benötigte: eine Zuflucht, wenn nicht gar, das Wort läßt sich schwer vermeiden, Geborgenheit.
    Für die längst fällige Neuordnung der Gesellschaft gab es, so schien mir, nur eine einzige Möglichkeit: eben den Kommunismus. Das galt insbesondere für

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