Mein Leben
zitieren, sondern der ich nachdrücklich zustimmen solle. Ich solle ihr das Zitat mit meinem kommentierenden Satz (aber bitte eindeutig!) am nächsten Tag bringen. Wir verabredeten uns – wie in Warschau nicht unüblich – in einem Cafe.
Ich wählte aus Stalins Schriften jenen berühmten Ausspruch von 1942, demzufolge man das deutsche Volk nicht mit den Nazis identifizieren dürfe, da die Hitlers kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibe. Dieses von der sowjetischen Propaganda jahrelang verbreitete Schlagwort, das wahrscheinlich unzähligen in Kriegsgefangenschaft geratenen deutschen Soldaten das Leben gerettet hat, halte ich noch heute für treffend und hochbedeutend.
Auch meiner freundlichen Lektorin gefiel das von mir angebotene Zitat. Wir lächelten uns an, dann tranken wir einen Wodka, dann streichelte ich sie, und dann waren wir uns einig. Sie fragte, unverkennbar ironisch, ob ich ihre Bibliothek sehen wolle – oder vielleicht ihre Briefmarkensammlung. Ja, sagte ich, ich sei außerordentlich interessiert, doch ließ ich offen, woran. Von den Briefmarken war nicht mehr die Rede und von der Bibliothek auch nicht. Aber die Couch meiner politischen Betreuerin war sehr breit, und ich war durchaus nicht enttäuscht. »Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer / Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst.« Gern denk ich an die Lektorin, die mir die Stalin-Zitate abforderte – mit Charme und mit Humor.
Mein Buch erschien 1955. Sein unbeholfener Titel lautete: »Aus der Geschichte der deutschen Literatur 1871-1954«. Das Ganze setzt mit Fontane und Hauptmann ein, es folgen Thomas und Heinrich Mann, Feuchtwanger, Arnold Zweig, Brecht, Anna Seghers. Auf dieses Opus stolz zu sein, habe ich nicht den geringsten Grund. Auch wenn manch ein Kapitel, manch ein Abschnitt mir erträglich scheint, erröte ich nicht selten, wenn ich heute in diesem Buch blättere.
Alles in allem ist es eine ziemlich schludrige Arbeit, die, ähnlich wie viele meiner Artikel aus der Zeit bis 1955, nur allzu deutlich erkennen läßt, welche verheerende Doktrin auf den Autor Einfluß ausgeübt hat – der sozialistische Realismus. Jawohl, meine Literaturkritik war bis etwa 1955 von der marxistischen und gewiß auch vulgärmarxistischen Literaturtheorie geprägt. Vielleicht sollte ich daran erinnern, daß es sich um jene Theorie handelte, die später, um 1968, von der Linken in der Bundesrepublik mit großer Emphase entdeckt und gefeiert wurde.
Aber ist das verwunderlich? Ich war damals, also in den Jahren 1951 bis 1955, ein Anfänger, ich war auch als Kritiker natürlich ein Autodidakt: Nie hatte ich an einem Seminar teilgenommen, es gab niemanden, der mich beraten oder gewarnt oder mir gar geholfen hätte. Wie jeder Anfänger brauchte ich Vorbilder. Wo konnte ich sie finden? In der polnischen Literaturkritik, gewiß, nur stand sie in hohem Maße ebenfalls unter dem Einfluß des sozialistischen Realismus. Das galt erst recht für die Kritik in der DDR, die auf erheblich niedrigerem Niveau war als in Polen.
Überdies: Als ich 1951 zu schreiben begann, war Polen von der westlichen Welt vollkommen abgeschnitten. Von den praktischen Folgen des Eisernen Vorhangs für das geistige Leben in den osteuropäischen Ländern hat man heute keine Vorstellung mehr.
Bücher, Zeitungen und Zeitschriften in deutscher Sprache konnte man nur dann erhalten, wenn sie in der DDR veröffentlicht waren. Meine Bemühungen um Bücher, die in diesen Jahren lediglich im Westen verlegt wurden – also beispielsweise Werke von Kafka oder Musil oder von zeitgenössischen westlichen Autoren –, blieben vergeblich. Von der Existenz der Wochenzeitung »Die Zeit« wußte ich nichts, und hätte mich damals jemand nach den führenden Kritikern oder den wichtigeren literarischen Verlagen in der Bundesrepublik gefragt, ich wäre nicht imstande gewesen, auch nur einen einzigen Namen zu nennen.
Erst 1956, im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, wurde der Eiserne Vorhang durchlässiger. Ich durfte wieder reisen, zunächst allerdings bloß innerhalb des Ostblocks. Im Sommer 1956 konnten wir, Tosia und ich, an einer vom Verband Polnischer Schriftsteller organisierten »Studienreise« in die Sowjetunion teilnehmen. Freilich mußten wir unerwartete Schwierigkeiten überwinden: Die zuständige Behörde weigerte sich, den Paß für Tosia zu genehmigen, weil wir keine standesamtliche Eheschließung nachweisen konnten, wir hatten nur jene vom Rabbiner 1942
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