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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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ehemaligen Güterbahnhofs, und wartete ungeduldig auf den Zug aus Berlin, der, wie üblich, Verspätung hatte. Endlich kamen die beiden Autoren, die ich im Namen des Verbands Polnischer Schriftsteller zu begrüßen hatte: Heinrich Böll, über den man in Warschau wenig wußte, und sein Freund, der Journalist und Satiriker Ernst-Adolf Kunz, der sich des Pseudonyms Philipp Wiebe bediente und über den nichts bekannt war.
    Ich brachte die beiden Herren ins Hotel und teilte ihnen beim Frühstück mit, der Polnische Schriftstellerverband werde sich die größte Mühe geben, um ihnen ihren kurzen Aufenthalt in Warschau und in Krakau denkbar angenehm zu machen und ihre Wünsche zu erfüllen. Vorerst hatte Böll nur einen einzigen, allerdings dringenden Wunsch: Er wollte wissen, ob es in der Nähe des Hotels eine katholische Kirche gebe. Die schönsten Kirchen Warschaus und jene mit den wichtigsten Sehenswürdigkeiten seien – informierte ich ihn – in der unmittelbaren Umgebung unseres Hotels. Doch war Böll an Sehenswürdigkeiten nicht interessiert. Vielmehr wollte er unbedingt und sofort zur Messe gehen. Ich war etwas verwundert, wohl zu Unrecht.
    Überall, in Warschau und in Krakau, begegnete man ihm mit großer Liebenswürdigkeit. Denn die Polen sind ein gastfreundliches Volk. Böll war überrascht, wenn nicht gerührt. Was sich hinter den Kulissen abspielte, wußte er freilich nicht: Sein Besuch bereitete dem Schriftstellerverband viel Kummer. Man hatte im schönen Warschauer Literaturhaus einen Empfang zu Bölls Ehren geplant. Etwa fünfzig Autoren wurden eingeladen. Aber sie sagten allesamt ab. Schlimmer noch: Sie sprachen offen, von Ausreden wollten sie nichts wissen. Manche allerdings wünschten Informationen über die unferne Vergangenheit des Gastes: Ob er zu den Emigranten gehört habe oder zu den Deserteuren, ob er im Gefängnis gewesen sei oder in einem Konzentrationslager oder wenigstens in einem Strafbataillon? Als man ihnen sagte, er sei den ganzen Krieg über ein gewöhnlicher deutscher Soldat gewesen, nicht mehr und nicht weniger – da winkten sie wortlos ab. Kaum elf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hatten polnische Schriftsteller kein Bedürfnis, einen Deutschen willkommen zu heißen. Um dem Gast den Affront zu ersparen, wurde der angekündigte Empfang aus dem Sitzungssaal des Verbandes kurzerhand in ein kleines Zimmer verlegt: Dort fiel es weniger auf, daß nur sechs oder sieben Personen erschienen waren, ausschließlich Übersetzer und Verlagslektoren.
    Wir wollten von Böll hören, wie es um die neue westdeutsche Literatur bestellt sei. Sein Bericht war nüchtern und bescheiden. Was er erzählte, war informativ, schien uns indes nicht sonderlich interessant. Trotzdem haben uns seine Worte tief berührt, ja sogar aufgeschreckt: Hier sprach ein Schriftsteller aus der in Polen als revanchistisch verrufenen Bundesrepublik gleichsam in einem Atem von deutscher Literatur und von deutscher Schuld – und jeder seiner eher schlichten und bisweilen linkischen Sätze wirkte überzeugend. Sofort gewann dieser unfeierliche Gast die Sympathie der Menschen, zu denen er sprach: Er wollte niemandem etwas vormachen. Wir spürten, daß dieser deutsche Schriftsteller, der sechs Jahre lang die Uniform der Wehrmacht getragen hatte, begnadet war – begnadet mit einem Charisma, das sich, wie oft in solchen Fällen, der Beschreibung entzieht.
    Die wenigen Teilnehmer an diesem Treffen verließen schweigend das Literaturhaus: beeindruckt und doch ziemlich ratlos. Beeindruckt und vollkommen ratlos war sehr bald auch Böll selber – freilich aus ganz anderen Gründen.
    Ich ging mit ihm spazieren, ich zeigte ihm, natürlich auf seinen Wunsch, die Zerstörungen Warschaus, die auf Schritt und Tritt zu sehen waren, und ich zeigte ihm den Wiederaufbau. Ich kommentierte alles so trocken wie möglich, er sprach wenig, er hörte zu. Ich glaube, er hat in diesen Stunden viel gelitten.
    Was sich bei Künstlern und Schriftstellern keineswegs von selber versteht, trifft mit Sicherheit auf Böll zu: Er war ein stets hilfsbereiter Mensch. Im Frühjahr 1957 wollte ich zum ersten Mal die Bundesrepublik besuchen. Doch konnte ich kein Einreisevisum erhalten. Böll hat sofort in Bonn interveniert, im Auswärtigen Amt und in anderen Behörden, die Tageszeitung »Die Welt« protestierte in einer empörten Glosse, der Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion interpellierte beim Bundesinnenminister. Drei Monate später erhielt ich das Visum,

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