Mein Leben
mit Tosias Gehalt. Aber nach wie vor war über mich ein Bann verhängt, nach wie vor war das Verhalten von Bekannten, die ich auf der Straße oder im Theater traf, nicht vorhersehbar. Manche, mit denen ich nur flüchtige Kontakte gehabt hatte, begrüßten mich jetzt besonders freundlich, andere (und sie waren in der Mehrzahl) wollten kein Risiko eingehen; sie bemühten sich, sogar Telefongespräche mit mir zu vermeiden. Ich hatte die Nerven zu behalten, ich durfte die Sache keinesfalls auf sich beruhen lassen, ich mußte etwas unternehmen. Wieder schrieb ich an das Zentralkomitee, diesmal nur wegen des Publikationsverbots. Und wieder einmal bekam ich keine Antwort.
Doch 1954, ungefähr ein Jahr nach Stalins Tod, gab es die ersten Anzeichen einer Protestbewegung der polnischen Intellektuellen gegen das Regime. Es begann scheinbar harmlos: Auf einer Versammlung des Schriftstellerverbands wurde ein Schulbuch kritisiert, ein neuer Leitfaden der Geschichte der polnischen Literatur. Man schlug den Sack und meinte den Esel: Man redete von einem Schulbuch, aber man meinte die ganze Kulturpolitik der Partei. Bald sprach man, den Titel eines wichtigen, wenn auch literarisch unbedeutenden Romans von Ilja Ehrenburg verwendend, vom »Tauwetter«.
Die allmähliche Liberalisierung ist auch mir zugute gekommen. Im Herbst 1954 rief ich in der Kontrollkommission der Partei an und fragte scheinheilig, ob sich in Sachen Publikationsverbot vielleicht etwas geändert habe. Irgendein Genosse sagte mir beflissen, er werde sich noch heute meiner Angelegenheit annehmen. Wenig später teilte man mir mit, daß ich mich am nächsten Tag bei einem Genossen Z. einem einflußreichen Funktionär, melden solle. Die Angelegenheit sah offenbar gut aus.
Tatsächlich wurde ich sofort vorgelassen. Allerdings sprach er mit mir nicht in seinem Zimmer, sondern nur im Korridor, stehend. Z. war ein älterer, hagerer, wohl ein wenig schwermütiger Mann, der, wie man mir später erzählte, mehrere Jahre in sowjetischen Lagern verbracht hatte. Er habe, sagte er mürrisch, meine Akten geprüft und keinen Anhaltspunkt für ein Arbeitsverbot gefunden. Ich könne wieder publizieren, ab sofort. Auf meine Fragen reagierte er mit einem Achselzucken: »Das war ein Irrtum, ein Mißverständnis.« Mehr konnte oder wollte er mir nicht erklären. Nie habe ich erfahren, warum dieses Verbot verhängt und warum es nach über anderthalb Jahren wieder aufgehoben wurde. Anderen, die jahrelang inhaftiert waren, erging es ähnlich. So war es eben in Polen in der stalinistischen Zeit.
Aber die Zeit des Stalinismus war noch keineswegs beendet. Es ging voran, doch sehr langsam: Neben Fortschritten gab es auch allerlei Rückschläge. Noch saßen die alten Kulturfunktionäre fest im Sattel. Auch ich bekam es rasch zu spüren. Ein Verlag hatte bei mir eine populäre Darstellung der neueren deutschen Literatur bestellt. Ich sollte in diesem Buch nur diejenigen Autoren und Titel behandeln, die nach 1945 in polnischer Übersetzung veröffentlicht worden waren, somit nicht etwa Kafka oder Musil. Die Aufgabe lockte mich nicht sehr, doch wurde sie nicht schlecht honoriert – und ich brauchte Geld.
Ein großer Teil des Manuskripts war schon fertig, da zwang mich das Publikationsverbot, das Ganze liegenzulassen. Jetzt brachte ich die Arbeit rasch zu Ende. Die junge Verlagslektorin, hübsch und schwarzhaarig, war zwar zufrieden, bemerkte aber schelmisch lächelnd, ich hätte mich kein einziges Mal auf Stalin berufen, ich hätte ihn nicht zitiert, ja, nicht einmal erwähnt. Das solle ich unbedingt ergänzen. Es sei, sagte sie, weiterhin lächelnd, eine Bedingung der Zensur.
Eine Zeitung oder Zeitschrift hatte derartiges, auch zu Stalins Lebzeiten, noch nie von mir verlangt. Schon möglich, meinte die charmante Lektorin, aber das sei vor meinem Publikationsverbot gewesen. Also wollte ich vor allem wissen: Wie oft? Diese Frage hatte man meiner ironischen Gesprächspartnerin wohl schon häufig gestellt, denn ihre Antwort kam schnell: Auf hundert Seiten mindestens einmal, insgesamt also viermal. Das Gewünschte war rasch beschafft: Ich zitierte eine banale Äußerung Stalins über die dialektische Methode und ein schwülstiges Telegramm an Pieck und Ulbricht, ich referierte eine kleine Geschichte von Anna Seghers, in der Stalin vorkam. Der hübschen und heiteren Lektorin war das nicht genug: Sie verlangte, mild und leise, noch eine Stelle, die ich jedoch – das müsse sein – nicht nur kalt
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