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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Weltliteratur entnahm. Hinterher fragte mich Grass, ob ich dies zu schreiben gedenke. Da ich verneinte, bat er mich um die Erlaubnis, einige dieser Motive zu verwenden. Erst viele Jahre später, 1972, publizierte er sein »Tagebuch einer Schnecke«, in dem ich meine Erlebnisse wiederfand – er hatte sie einem Lehrer mit dem Spitznamen »Zweifel« zugeschanzt.
    Als wir uns wieder einmal trafen, sagte ich beiläufig, daß ich doch wohl an den Honoraren für das »Tagebuch einer Schnecke« beteiligt sein sollte. Grass erblaßte und zündete sich mit zitternder Hand eine Zigarette an. Um ihn zu beruhigen, machte ich ihm rasch einen Vorschlag: Ich sei bereit, auf alle Rechte ein für allemal zu verzichten, wenn er mir dafür eine seiner Graphiken schenke. Ihm fiel hörbar ein Stein vom Herzen: Er sei einverstanden, ich solle mir die Graphik selber aussuchen, er lade zu diesem Zweck Tosia und mich in sein Haus in Wewelsfleth ein, er werde uns eigenhändig ein Essen zubereiten. Ich stimmte zu, wenngleich mich die Erinnerung an eine von Grass gekochte Suppe irritierte, die ich im Sommer 1965 (der Anlaß war die Hochzeit des Berliner Germanisten Walter Höllerer) leichtsinnig zu mir genommen hatte. Sie war abscheulich. Mir schwante abermals Schlimmes. Doch zum Beruf des Kritikers gehört Mut.
    Am 27. Mai 1973 machten wir uns auf die Reise von Hamburg nach Wewelsfleth in Schleswig-Holstein. Das war gar nicht so einfach, denn man mußte, um diese Ortschaft zu erreichen, einen Fluß überqueren, über den es keine Brücke gab. Wir hatten uns einem Fährmann anzuvertrauen. Schließlich kamen wir an, bald konnte ich mir eine Graphik aussuchen. Ich bat Grass artig um eine Widmung. Er überlegte nur einen Augenblick und schrieb: »Für meinen Freund (Zweifel) Marcel Reich-Ranicki.« Immerhin: beinahe ein Wortspiel.
    Dann servierte er uns einen Fisch. Um es kurz zu machen: Ich hasse und fürchte Gräten. Bis dahin wußte ich auch nicht, daß es Fische mit so vielen Gräten gibt – wobei ich nicht ausschließen kann, daß deren Zahl in meiner Erinnerung mit den Jahren noch gewachsen ist. Gleichviel, es war qualvoll, aber auch genußreich: Grass, schwach als Suppenkoch, kann mit Fischen wunderbar umgehen, das Essen war gefährlich und schmackhaft zugleich – und es hatte weder für Tosia noch für mich auch nur die geringsten negativen Folgen. Indes: Folgen gab es schon, aber anderer Art. Was von dem Fisch übriggeblieben war, zumal die vielen Gräten, hat Grass am nächsten Tag gezeichnet, sehr bald stand dieser Fisch im Mittelpunkt eines Grass-Romans. Denn es war ein Butt.
    Ob wir in Wewelsfleth Erinnerungen an unser Treffen in Warschau ausgetauscht haben, weiß ich nicht mehr. Es waren inzwischen fünfzehn Jahre vergangen, unser Leben, unsere Rollen und Situationen hatten sich gänzlich gewandelt. Aus dem unbekannten und ärmlichen Anfänger Grass war ein weltberühmter und, wie es sich gehört, auch ein vermögender Schriftsteller geworden. Ich wiederum war längst ein Bürger der Bundesrepublik Deutschland und schon beinahe vierzehn Jahre lang der einzige ständige Literaturkritiker der angesehensten deutschen Wochenzeitung, der »Zeit«. Mehr noch: Ich hatte, was ich Grass nicht sagen durfte, einen Vertrag für einen neuen Posten abgeschlossen, für den interessantesten im literarischen Leben der Bundesrepublik – für den Posten des Literaturchefs der »Frankfurter Allgemeinen«.
    Nach dem so unergiebigen und doch so wichtigen und belehrenden Treffen mit Grass im Mai 1958 in Warschau blieb ich dort nur noch wenige Wochen. Meine Stimmung war durchaus nicht fröhlich, eher wehmütig: Ganz leicht fiel mir der heimliche Abschied nun doch nicht. Als Pole habe ich mich nie verstanden, auch nicht als halber Pole, wie ich es in Großholzleute Grass gesagt hatte. Was bindet mich – auch heute noch – an Polen? Die Sprache ist es, über die ich immer noch verfüge, die Dichtung der Polen ist es, die ich liebe, die große Poesie der Romantik, die herrliche Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts. Und Chopin ist es, natürlich.
    Aber nicht der Abschied von Polen fiel mir schwer, sondern der von Warschau. Beinahe zwanzig Jahre habe ich hier unendlich viel erlebt und ertragen, gelitten und geliebt. Geliebt? Ja, es gab eine lange und ernste Beziehung, die Freundschaft mit einer jungen Psychologin, Sie bedeutete mir außerordentlich viel. Die Dankbarkeit, mit der ich mich an diese Liebesgeschichte erinnere, gilt zwei Frauen – die andere ist

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