Mein Leben
finden. Im Frühjahr 1958 verbrachte Tosia mit unserem Sohn einen kurzen Urlaub im Riesengebirge. Der Schriftsteller Carl Hauptmann, Gerhart Hauptmanns älterer Bruder, hatte in Schreiberhau ein Haus, das man besichtigen konnte. Auf irgendeinem Regal fielen ihr gerade diese beiden von mir so dringend begehrten Bände auf. Sie hat sie schamlos geklaut, für mich gestohlen, für unsere Zukunft in Deutschland entwendet. Diese Wörterbücher – ich habe sie nie gebraucht, aber ich besitze sie immer noch.
Zugleich versuchte ich in diesen letzten Monaten in Polen mich ein wenig über die Literaturkritik in der Bundesrepublik zu informieren. Die »Frankfurter Allgemeine« hatte jetzt einen ständigen Korrespondenten in Warschau: Hansjakob Stehle. Wir waren uns gegenseitig nützlich: Ich half ihm, sich im Kulturleben Polens zurechtzufinden, er half mir zu begreifen, was sich in der Bundesrepublik abspielte – und er versorgte mich ab und zu mit westdeutschen Zeitungen, vor allem mit der »Frankfurter Allgemeinen«.
In der »Frankfurter Allgemeinen« las ich das Feuilleton und, besonders aufmerksam, die Buchbesprechungen. Ich fand sie schön und oft sogar elegant geschrieben, fragte mich aber, ob es denn wirklich nötig und richtig sei, schlichte Einsichten so feierlich und umständlich zu servieren. Wurden hier etwa Hohlräume verkleidet? Ganz im stillen dachte ich mir: Bei etwas Glück könne ich es mit solchen Rezensenten aufnehmen. Über die zeitgenössische deutsche Literatur war dieser Zeitung allerdings nicht viel zu entnehmen. Da war es mir recht, daß sich bald die Gelegenheit zu einem nicht alltäglichen Treffen bot.
Im Mai 1958 rief mich mein Freund Andrzej Wirth an: Er habe Kummer, er bitte mich um Hilfe. Er erwarte nämlich einen jungen Mann aus der Bundesrepublik Deutschland, der unglücklicherweise hier in Warschau niemanden kenne. Man müsse diesen armen Menschen ein wenig betreuen, was er, Wirth, allein nicht schaffen werde. Ob ich ihm den Gefallen tun könne, mit dem jungen Mann einen Nachmittag zu verbringen. Ich fragte mißtrauisch, ob es sich etwa um einen Schriftsteller handle. Das werde – antwortete Wirth – die Zukunft zeigen. Immerhin habe er schon zwei Theaterstücke verfertigt, von denen eins bereits durchgefallen sei und das andere vermutlich demnächst durchfallen werde. Mein Freund glaubte nicht, daß der junge Mann je ein brauchbares Stück zustande bringen werde. Dennoch scheine er begabt zu sein, wenngleich man noch nicht sagen könne, wozu er nun eigentlich begabt und imstande sei.
Am nächsten Tag ging ich ins Hotel »Bristol«, wo der Gast gegen fünfzehn Uhr auf mich warten sollte. Um diese Zeit war die Hotelhalle leer, nirgends ließ sich ein westdeutscher Schriftsteller blicken. Nur ein einziger Sessel war besetzt, in dem saß aber ein Mensch, der nicht hierher paßte. Das »Bristol« war damals das einzige Warschauer Luxushotel, bewohnt fast ausschließlich von Ausländern, die sich schon durch ihre Kleidung von den Einheimischen unterschieden. Der Mann im Sessel war hingegen, um es gelinde auszudrücken, nachlässig gekleidet und auch nicht rasiert. Er schien zu tun, was in einer vornehmen Hotelhalle nicht üblich ist: Er schlummerte.
Plötzlich riß er sich zusammen und schritt auf mich zu. Ich erschrak. Aber nicht sein mächtiger Schnurrbart war es, der mir Angst einjagte, sondern sein Blick, ein sturer und starrer, ein gläserner, ein beinahe wilder Blick. Den, dachte ich mir, möchte ich nicht in einer dunklen Straße treffen, der hat wohl in seiner Hosentasche wenn auch nicht einen Revolver, so doch ein Messer. Während ich noch mit diesem inneren Monolog beschäftigt war, stellte sich der junge Mann durchaus manierlich vor. Um die Sache mit dem sturen, dem gläsernen Blick gleich aufzuklären: Er hatte, was er mir freilich erst zwei Stunden später sagte, zum einsamen Mittagessen eine ganze Flasche Wodka getrunken.
Ich schlug ihm einen gemeinsamen Spaziergang vor. Er war einverstanden, wir gingen los, trotz des gewaltigen Alkoholkonsums schwankte er keinen Augenblick, er marschierte neben mir stramm und wacker. Aber auf die vielen Kirchen und Paläste, auf die ich seine Aufmerksamkeit lenken wollte, reagierte er schwach. Er war offensichtlich vor allem mit sich selber beschäftigt und dem Gespräch eher abgeneigt. Da schien es mir angebracht, das Thema zu wechseln. Ich wollte seine Ansichten über die in der Bundesrepublik entstehende Literatur hören. Da er weiterhin
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