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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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einsilbig und mürrisch blieb, nannte ich versuchsweise einige Namen. Wolfgang Koeppen? Hartnäckiges Schweigen, ich glaube, er kannte keine Zeile von Koeppen. Heinrich Böll? Ein spöttisches, doch unzweifelhaft mildes Lächeln. Max Frisch? Was sich in dessen Romanen abspiele, sei für ihn, meinen Gast, viel zu vornehm. Alfred Andersen? Der Name belebte meinen Gesprächspartner. Denn von Andersch war damals der Roman »Sansibar« sehr erfolgreich. Derartiges mögen Schriftstellerkollegen nicht. Die fliehende Jüdin, von der in »Sansibar« erzählt werde, sei doch so schön und schick. Wie, wenn sie häßlich gewesen wäre und Pickel gehabt hätte? Wäre sie dann – fragte der junge Mann – weniger bemitleidenswert? Ich äußerte mich über den Roman anerkennend, mein Gast hörte es offenbar nicht so gern.
    Jetzt versuchte ich es mit Autoren der vorangegangenen Generation – von Thomas Mann über Hermann Hesse bis zu Robert Musil. Ich hatte den Eindruck, daß der junge Mann keine Ahnung von Ackerbau und Viehzucht habe. Daß ihn der übermäßige Alkoholkonsum schläfrig gemacht hatte, wußte ich allerdings noch nicht. Wohl aber wußte ich, wie man einen Schriftsteller oder einen, der ein Schriftsteller werden wollte, zum Reden bringt. Es gibt da eine Frage, die sofort die Zunge auch des störrischsten Kandidaten löst. Sie lautet: »Woran arbeiten Sie, mein junger Freund?« Jetzt ging es los: Er schreibe einen Roman. Das wunderte mich überhaupt nicht, denn ich habe in meinem ganzen Leben nur sehr wenige deutsche Schriftsteller kennengelernt, die nicht gerade an einem Roman arbeiteten. Ob er mir etwas über die Handlung sagen wolle? Er wollte. Er schreibe die Geschichte eines Menschen; die Sache beginne in den zwanziger Jahren und reiche beinahe bis heute. Wer das denn sei? Ein Zwerg. Hm. Zuletzt hatte ich etwas über einen Zwerg in meiner Kindheit gelesen, es war ein Märchen von Wilhelm Hauff. Was weiter? – fragte ich nicht eben neugierig. Dieser Zwerg – erklärte er mir – habe auch einen Buckel. Wie? Zwerg und bucklig auf einmal, ob das nicht etwas zuviel des Guten sei? Der bucklige Zwerg – fuhr der junge Mann fort – sei Insasse einer Irrenanstalt.
    Jetzt reichte es mir, mehr wollte ich über den geplanten Roman nicht wissen. Hingegen machte ich mir nun besorgte Gedanken um den Gast, den ich zu betreuen hatte, zumal sein Blick immer noch starr und wild war. Eines schien mir sicher: Aus dem Roman wird nichts werden. Allmählich hatte ich die Lust an dem Gespräch mit diesem nicht sehr höflichen Westdeutschen verloren. Ich brachte ihn ins Hotel. Wir verabschiedeten uns kühl und dachten wahrscheinlich dasselbe – daß es ein langweiliger und überflüssiger Nachmittag gewesen war.
    Nein, er war nicht überflüssig, jedenfalls nicht für mich. Ende Oktober 1958 sah ich den jungen Mann wieder: Auf einer Tagung der »Gruppe 47« in Großholzleute im Allgäu las er, Günter Grass, zwei Kapitel aus der immer noch im Entstehen begriffenen »Blechtrommel«. Ich hätte mir bei den Lesungen von Anfang an fleißig Notizen gemacht – erinnerte sich Hans Werner Richter –, doch darauf gleich nach den ersten Sätzen der Prosa von Grass verzichtet. Das stimmt, mir haben die beiden Kapitel gefallen, sie haben mich nahezu begeistert. Ich schrieb das auch in einem Tagungsbericht, der wenig später in der Münchner Wochenzeitung »Die Kultur« gedruckt wurde – sie haben mir übrigens in viel höherem Maße gefallen als der im folgenden Jahr erschienene ganze Roman, über den ich skeptisch, gewiß zu skeptisch geurteilt habe. Gelernt habe ich in Großholzleute, daß es sich nicht lohnt zuzuhören, wenn Schriftsteller von der Handlung eines Romans berichten, an dem sie gerade arbeiten. Solchen Geschichten kann man in der Regel nichts, aber auch gar nichts entnehmen. Denn aus den kühnsten und originellsten Einfällen ergeben sich meist miserable Bücher – und absurd scheinende Motive können zu großartigen Romanen führen.
    Am Abend saßen wir in Großholzleute beim Wein. Jemand bat mich, ein wenig über meine Erlebnisse in Warschau während der deutschen Besatzung zu erzählen. Um nicht die Laune der Anwesenden zu verderben – schließlich waren alle, die da am Tisch saßen, während des Krieges Soldaten gewesen, einige vermutlich auch in Polen –, wählte ich besonders harmlose Episoden: Ich berichtete, wie ich mich in düsteren Stunden als ein Geschichtenerzähler betätigte, der seine Stoffe der

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