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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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jene, die sie geduldet hat. Und meine Ehe? Vielleicht bewährt sich eine Ehe gerade dann, wenn man, wohl wissend, daß der Ehepartner ein Liebesverhältnis hat, zwar leidet, selbstverständlich, aber den Gedanken weit von sich weist, dies könne die Ehe wirklich gefährden. Zu solchen Leiden und zu solchen Gedanken haben wir beide, Tosia und ich, Anlaß gehabt.
    So war es zwar ein sentimentaler Abschied von Warschau, doch hielt sich die elegische Stimmung in Grenzen. Sie wurde von der Angst verdrängt – der Angst, ob der Ausreiseplan tatsächlich gelingen oder gar im allerletzten Augenblick scheitern werde; und von der Angst vor der dunklen Zukunft. Aber an der Richtigkeit meiner Entscheidung, Polen zu verlassen, habe ich keine Sekunde gezweifelt. Und wir waren fest entschlossen, uns auf keinen Fall trennen zu lassen. Tosia flog mit unserem Sohn erst dann nach London, als auch ich den Auslandspaß erhalten hatte – für die Reise in die Bundesrepublik. Bis zum letzten Augenblick fürchteten wir, man könnte uns unsere Pässe wieder entziehen. Als ich die Maschine nach Amsterdam, wo die beiden umsteigen mußten, in der Luft entschwinden sah, fragte ich mich, wann ich sie wiedersehen würde. Sofort nach Tosias Anruf aus London verständigte ich mich mit einem Freund, zu dem ich volles Vertrauen hatte. Dennoch informierte ich ihn erst am Vortag der Abreise nach Frankfurt über meine Absicht, nicht mehr zurückzukehren. Ihm gab ich die Schlüssel zu meiner Wohnung, in der alles bleiben mußte, was ich besaß, vor allem die mittlerweile ganz ansehnliche Bibliothek.
    Mein Paß galt für eine einmalige Reise in die Bundesrepublik und für einen Aufenthalt von nicht mehr als 91 Tagen. Der deutsche »Einreisesichtvermerk« war auf neunzig Tage beschränkt. Das Gepäck, das ich mitzunehmen gewagt hatte, bestand aus einem mittleren Koffer mit Kleidungsstücken, einer ziemlich schweren Aktentasche mit Papieren verschiedener Art (darunter alle Artikel, die ich in Polen publiziert hatte), einigen Büchern und einer alten, klapprigen Schreibmaschine. Omnia mea mecum porto. Ja, ich besaß jetzt nichts als dieses dürftige Gepäck. Gewiß, ich hatte noch Bargeld: fünfhundert Zloty, die freilich in der Bundesrepublik von keiner Bank akzeptiert wurden. Sie waren wertlos. Außerdem hatte ich, immerhin, etwa zwanzig Mark. Mehr durfte mir die Devisenabteilung der Polnischen Nationalbank nicht bewilligen.
    Die polnische Zollkontrolle verlief ohne Schwierigkeiten, nur meine Reise-Schreibmaschine wurde argwöhnisch beäugt und sorgfältig in meinen Paß eingetragen (»Marke Triumph«), Aber nachdem alle Kontrollen vollzogen und die Beamten ausgestiegen waren – fuhr der Zug nicht ab. In den Waggons saßen nur wenige Passagiere, der Bahnsteig war vollkommen leer und die Stille unheimlich. Ich hatte Angst. Würde man mich noch aus dem Zug holen und vielleicht gar verhaften? Eine Viertelstunde verging, nichts änderte sich, und die Stille, so schien es mir, wurde immer unerträglicher. Doch ganz unerwartet – kein Kommando oder sonst ein Laut war vernehmbar gewesen – setzte sich der Zug in Bewegung. Ich traute meinen Augen nicht: Er war tatsächlich abgefahren – er fuhr ganz langsam und ganz leise, in westlicher Richtung.
    Schon wenige Minuten später wurde mein Gepäck noch einmal kontrolliert – von zwei strengen DDR-Zöllnerinnen. Ich hätte ihnen sagen können, was einst Heine den preußischen Grenzbeamten gesagt hatte:
     
    Ihr Toren, die Ihr im Koffer sucht!
    Hier werdet Ihr nichts entdecken!
    Die Contrebande, die mit mir reist,
    Die hab ich im Kopfe stecken.
     
    Ich hatte wieder einmal nichts, gar nichts – nur dieses unsichtbare Gepäck, die Literatur, die deutsche zumal.

 
VIERTER TEIL
 
von 1958 bis 1973

 
Als Deutsche anerkannt
     
    Als ich am 21. Juli 1958 auf dem Hauptbahnhof Frankfurt am Main aus dem Zug stieg, wußte ich, daß in diesem Augenblick und auf diesem Bahnsteig ein neues Kapitel meines Lebens begann. Aber ich wußte nicht, wo und wovon ich in Deutschland leben sollte, ich hatte keine Ahnung, was mir bevorstand. Für Frankfurt als ersten Aufenthaltsort hatte ich mich seiner zentralen Lage wegen entschieden; überdies wohnte hier der jüngste Bruder meiner Mutter, jener Rechtsanwalt und Liebhaber der Pferderennen, der während des Krieges in der Fremdenlegion gedient hatte. Bei ihm konnte ich vorerst Unterkunft finden.
    Vor allem hatte ich mich um meinen Lebensunterhalt zu kümmern: Ich mußte also auf

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