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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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liebte, ohne, wie ich glaube, zu ihr eine tiefere Beziehung gehabt zu haben. Sein musikalischer Geschmack war recht gut, seine oft apodiktischen Urteile schienen mir originell und skurril. Allerdings fiel mir auf, daß er verschiedene, keineswegs abseitige Komponisten nicht kannte. Bei diesem Teil unserer Unterhaltung ließ ich ein Tonband mitlaufen. Das störte ihn überhaupt nicht. Was Bernhard mir sagte, war amüsant, doch für eine Veröffentlichung, so schien es mir, nicht geeignet. Ich habe das Band gelöscht.
    In seinem Haus in Ohlsdorf waren die Wände strahlend weiß gestrichen, die Fenster und die Türen aber mit einem pechschwarzen Streifen umrandet. Sein Heim war unheimlich. Wer will, kann diesen krassen Farbkontrast auch in seinen Büchern wiederfinden. Sie leben von polaren Spannungen, zumal von jener zwischen Schwermut und Humor. Bernhard war ein lachender Melancholiker, ein beängstigender Spaßmacher. Er war ein heiterer Dichter der Verstörung und der Zerstörung, des Verfalls und des Zerfalls, der Auflösung und der Auslöschung.
    Damals, in den sechziger Jahren, als ich über Bernhard zu schreiben begann, befaßte ich mich in der »Zeit« sehr häufig mit Büchern von jüngeren Schriftstellern, die noch nahezu oder ganz unbekannt waren – wie etwa, um nur einige zu nennen, Reinhard Baumgart, Jurek Becker, Peter Bichsel, Wolf Biermann, Rolf Dieter Brinkmann, Hubert Fichte, Alexander Kluge, Adolf Muschg, Ulrich Plenzdorf, Gabriele Wohmann oder Wolf Wondratschek. Es waren beinahe immer wohlwollende, lobende Artikel.
    Gleichwohl galt ich bald als ein um sich schlagender Wüterich. Ich bin nicht sicher, ob es unter diesen Umständen ein glücklicher Einfall war, eine Auswahl meiner negativen Kritiken zwischen zwei Buchdeckeln zu versammeln und mit dem Titel »Lauter Verrisse« zu versehen. Übrigens handelte es sich niemals um Bücher von Anfängern, vielmehr von unzweifelhaft arrivierten Autoren. Abgeschlossen wurde das Buch mit der schärfsten und radikalsten kritischen Verurteilung meiner eigenen Arbeit. Sie stammte von Peter Handke. Das Ganze sollte verstanden werden als ein Beitrag zum Gespräch über deutsche Literatur und Kritik in jenen Jahren und als ein Plädoyer für jene Verneinung, hinter der sich nichts anderes verbirgt als eine entschiedene Bejahung.
    Das Buch war sehr erfolgreich, es erschien in vier verschiedenen Ausgaben und in vielen Auflagen. Aber es hat bewirkt, was ich nicht wollte: Statt Vorurteile abzubauen, hat es sie erhärtet. Von nun an wurde in Zeitungen und Magazinen, wenn man meinen Namen nannte, in Klammern der Titel »Lauter Verrisse« hinzugefügt. Er avancierte mit der Zeit, obwohl ich vor und nach dieser Sammlung einige Bücher veröffentlicht habe, die mir gewichtiger scheinen, zum nicht eben freundlichen Markenzeichen. Obwohl ich viele, sehr viele zustimmende Besprechungen geschrieben habe und obwohl mich bei gelegentlicher Lektüre alter Kritiken die Frage irritiert, ob ich nicht allzu häufig bereit war, Bücher zu feiern, die es kaum verdient haben, stand ich in dem Ruf eines Spezialisten für Verrisse. Auf einer Zeichnung von Friedrich Dürrenmatt hocke ich, mit einem überdimensionalen Federhalter bewaffnet, auf vielen Köpfen, offenbar jenen meiner Opfer. Die Zeichnung ist überschrieben: »Schädelstätte«.
    Aber darüber beklage ich mich keinesfalls; ich dürfte es schon deshalb nicht, weil auch ich Schriftsteller häufig mit Formeln charakterisiert habe. Auch ihnen war es gar nicht recht, von mir, ob ich es wollte oder nicht, mit Markenzeichen versehen zu werden. Doch wird man verstehen, daß ich das Bedürfnis hatte, dem Buch »Lauter Verrisse« ein Gegenbuch an die Seite zu stellen. Es erschien 1985 unter dem Titel »Lauter Lobreden« und enthält neben einigen Geburtstagsartikeln vor allem Reden, die ich aus Anlaß von Preisverleihungen und verschiedenen Jubiläen gehalten habe – die Skala reicht von Ricarda Huch bis Hermann Burger. Freilich hat mir dieses Buch überhaupt nicht geholfen: Ich gelte weiterhin als ein Mann der literarischen Hinrichtungen.
    Da ich im Laufe der Jahre viele Bücher verfaßt und noch mehr herausgegeben habe, konnte ich oft Kritiken in eigener Sache lesen. Es waren darunter, wie nicht anders zu erwarten, viele, sehr viele Verrisse, und sie ließen – auch das ist nicht verwunderlich – an Härte und Aggressivität nichts zu wünschen übrig. Die Schmerzen und die Leiden der von mir abgelehnten Schriftsteller sind mir

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