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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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hatte er kaum gelesen. Er bekannte sich zu dieser Unkenntnis nicht ohne Trotz und Hochmut. Von den großen deutschsprachigen Schriftstellern aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ließ er nur wenige gelten, über die er sich, zumal über Kafka und Karl Kraus, höchst anregend äußerte. So höflich Canetti war, so wurde doch schnell klar, daß das Zuhören schwerlich als eine seiner starken Seiten gelten konnte – vielleicht deshalb, weil er viel, außerordentlich viel zu sagen hatte, und weil es offenbar in London, entgegen dem Eindruck, den er erwecken wollte, für ihn nicht gar so viele Gesprächspartner gab. Sobald von seinem Werk und seinem Lebensweg die Rede war, sobald er die eigene Person betrachtete und für den Gast skizzierte, machte sich eine gewisse Feierlichkeit bemerkbar. Große Teile seiner vor Jahren entstandenen Tagebücher und verschiedener Aufzeichnungen habe noch niemand gelesen, sie seien sicherheitshalber, also um zudringlichen Journalisten und Kritikern und sonstigen Neugierigen den Zugang zu versperren, in einer Geheimschrift verfaßt.
    Ich fragte mich, ob denn jemand so sehr an diesen Aufzeichnungen interessiert sei oder ob es sich vielleicht, ähnlich wie bei Canettis Spielregeln für die Telefonanrufer, um, respektlos ausgedrückt, gewöhnliche Wichtigtuerei handle. Zu seinem Persönlichkeitsbild gehörten Elemente, die nur auf den ersten Blick unvereinbar scheinen – die Selbstgefälligkeit, die er nicht verbergen konnte, und das Einsamkeitspathos, bei dem er offenbar Zuflucht gesucht hatte.
    Als wir uns damals, im Dezember 1964, mehrmals trafen, galt er in Deutschland noch unter den Außenseitern als ein Außenseiter. Nur wenige seiner Bücher waren erschienen, und sie hatten nicht allzu viele Leser gefunden. Die zahlreichen deutschen und österreichischen Preise und Titel, mit denen man Canetti geehrt hat – vom Nobelpreis ganz zu schweigen –, standen ihm noch alle bevor. Die Rolle eines weltlichen Sehers, die er später mit beinahe unvergleichlichem Charisma spielte, war ihm noch nicht gegeben, noch war man sich in Deutschland der sektenbildenden Kraft, die vom Werk und von der Persönlichkeit dieses Schriftstellers ausging, nicht bewußt.
    Wir verabschiedeten uns in großer Herzlichkeit. Canetti hoffte wohl, ein neues Mitglied seiner zu jener Zeit nur langsam wachsenden Gemeinde gewonnen zu haben. Sicher ist, daß ich seinem Charisma erlegen war, vorerst jedenfalls. Doch ließ die zunächst so starke Wirkung in den nächsten Jahren deutlich nach und nicht ohne Grund. Wir trafen uns noch einige Male, aber eine Freundschaft wurde aus dieser Beziehung nicht.
    1967 habe ich ein Sammelwerk vorbereitet, in dem ich Urteile und Kommentare vieler Schriftsteller, Philosophen und Journalisten über Heinrich Böll vereinen wollte. Wie immer in solchen Fällen gab es nicht wenige Zusagen und Absagen. Jaspers und Heidegger konnten nicht teilnehmen, aber viele waren mit von der Partie – von Adorno und Rudolf Augstein über Lukács und Ludwig Marcuse bis zu Martin Walser und Zuckmayer.
    Ich bat auch Canetti um eine Äußerung über Böll – und sei es eine ganz kurze. Jaspers hatte mir geschrieben, er habe von Böll keine Zeile gelesen und man müsse sich auf das, was einem persönlich wesentlich ist, beschränken, um überhaupt etwas zu tun. Ähnlich, doch im Ton ganz anders, antwortete mir Canetti. In seinem Brief heißt es: »Ich bin in der peinlichen Lage eines Ignoranten, der sich mit dem Böllschen Werk nicht hinreichend befaßt hat. Eigentlich müßte ich mich vor seinen sieben Millionen Lesern schämen, die ihn besser kennen als ich.« Die Ironie war unmißverständlich: Canetti wollte andeuten, daß ich ihm ein Thema zugemutet hatte, das seiner nun doch nicht würdig sei.
    Nach der beinahe euphorischen Anfangsphase kühlten sich unsere Beziehungen merklich ab, zumal Canetti schon mit meiner ersten Kritik eines seiner Bücher, des kleinen und reizvollen, des poetischen Prosabands »Die Stimmen von Marrakesch«, nicht zufrieden war: Ich hätte, sagte er mir, eine Nebenarbeit von ihm auf Kosten seiner Hauptwerke gelobt – womit er nicht im Unrecht war. Seit meinem mißglückten Versuch, ihn für einen kleinen Beitrag über Böll zu gewinnen, waren mehr als sechs Jahre verstrichen, ich hatte mittlerweile den Literaturteil der »Frankfurter Allgemeinen« übernommen. Es nahte der hundertste Geburtstag Hugo von Hofmannsthals, den ich in dieser Zeitung auf eine mir angemessen

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