Mein Leben
müssen, dessen sei sie sicher.
Sie erzählte mir dies alles ganz ruhig. Ich konnte nichts sagen, ich war ratlos. Ob man sie darüber unterrichtet hat, daß ich in Berlin aufgewachsen war und was ich später erlebt hatte, weiß ich nicht. Aber sie stellte mir keine einzige Frage, sie wollte nichts über mich wissen: Nelly Sachs war nur mit sich selbst beschäftigt, während dieses Besuchs war ausschließlich von ihr die Rede. Sobald sie vom Thema ihrer Verfolgung zu anderen Fragen überging, sprach sie einfach und vernünftig. Als ich mich nach etwa einer Stunde verabschiedete, schenkte sie mir eines ihrer Bücher und versah es mit zwei Versen aus ihrem Werk, die ich während unseres Gesprächs zu ihrer Zufriedenheit zitiert hatte: »An Stelle von Heimat / halten wir die Verwandlungen der Welt.« Ich hatte ursprünglich geplant, über den Besuch bei Nelly Sachs einen kleinen Bericht in der »Zeit« zu schreiben. Aber ich war dazu nicht mehr imstande, ich kapitulierte.
Kapituliert habe ich auch vor den ersten beiden Prosabüchern von Thomas Bernhard. Seinen Roman »Frost« aus dem Jahre 1963 las ich mit gemischten Gefühlen: Ich war fasziniert und beeindruckt, ich war verwirrt. Ein großes Talent? Ganz sicher war ich meiner Sache nicht. Ein Kritiker, der sich nicht entscheiden kann, müsse, meinte ich, seine Unsicherheit mit sich selber ausmachen und dürfe erst dann vor das Publikum treten, wenn er glaubt, klar sagen zu können, was seiner Ansicht nach hier gespielt und wie es gespielt werde. Beim nächsten Buch Bernhards, der Erzählung »Amras«, stand ich vor demselben Dilemma. Wenn ich mir überlege, was mich damals gehindert hat, über ihn zu schreiben, dann drängt sich mir ein einziges Wort auf:
Angst. Ich fürchtete, seiner Prosa nicht gewachsen zu sein. Wie ich viele Jahre lang gezögert hatte, mich über Kafka zu äußern, so entzog ich mich vorerst auch den Büchern Bernhards.
Als ich aber 1965 in der »Neuen Rundschau« seine nicht lange Erzählung »Der Zimmerer« gelesen hatte, war mein etwas zwiespältiges Verhältnis zu dem jungen österreichischen Autor endgültig überwunden. Dieses Prosastück und das wenig spätere mit dem Titel »Die Mütze« berührten und ergriffen mich mehr als Bernhards vorangegangene Bücher. Ich beschloß, mich von nun an mit ihm kritisch auseinanderzusetzen. Es erschienen dann der Roman »Verstörung« und die kleine, die gewichtige Sammlung »Prosa«. Hatte ich jetzt keine Angst mehr vor Bernhard? War ich nun seinem Werk gewachsen? Es fragt sich, ob man ihm überhaupt gewachsen sein kann. Goethe sagte 1827 zu Eckermann: »Je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser.« Ich mag diesen Ausspruch nicht. Hat Goethe dies wirklich und wörtlich gemeint? Oder wollte er nur andeuten, daß das Inkommensurable und für den Verstand Unfaßliche dem Autor und seiner Dichtung sehr wohl zugute kommen könne?
Thomas Bernhard spürte und wußte ungleich mehr, als er in Worten auszudrücken imstande war. Eben deshalb konnte er ausdrücken, was sich in seinen Büchern findet. Aber sein Werk zeichnet sich durch schroffe und hochmütige Unvollkommenheit aus. Die Vorstellung, es sei seine Aufgabe, etwas Perfektes zu liefern, hätte er gewiß als absurde Zumutung oder als Unverschämtheit zurückgewiesen. Seine Sache war das Fragmentarische – und der »Übertreibungsfanatismus«. Seine Prosa bleibt auch dann beklemmend, wenn er scheinbar unbeschwert und munter erzählt. Je besser ich sie zu verstehen glaubte, desto mehr beunruhigte sie mich.
Aber meine Gespräche mit Bernhard waren weder beklemmend noch unruhig, es waren in der Regel entspannte und angenehme Plaudereien. Ich habe ihn mehrfach getroffen: in Berlin, in Frankfurt und in Salzburg und einmal, im August 1982, im oberösterreichischen Ohlsdorf. Er war damals überaus freundlich. Man kann sich den Grund denken: Ich hatte seine autobiographischen Bücher »Die Ursache«, »Der Keller« und »Der Atem« begeistert besprochen. Wir unterhielten uns einige Stunden, aber wir erwähnten kein einziges Mal, womit wir gerade beruflich beschäftigt waren. Ich wollte von ihm nichts über seine Arbeit erfahren. Auch er stellte mir keine Fragen, die auf Literatur oder Kritik abzielten. Bernhard gehörte zu den nicht wenigen Schriftstellern, die Literatur schufen – und eine wunderbare –, die sich aber für Literatur nicht sonderlich interessierten.
Viel sprachen wir über Musik, die er
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