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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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allem Anschein nach, zufrieden, daß sie meine Fragen nicht zu beantworten brauchten: Man hatte sich eines Ruhestörers entledigt.
    Freilich konnte ich in meinem Bereich machen, was ich wollte. Kein einziger Artikel, kein einziges Gedicht, keine Meldung, nichts von dem, was meiner Ansicht nach im Blatt gedruckt werden sollte, blieb in diesen fünfzehn Jahren ungedruckt. Ich hatte mit Fest vereinbart, daß jeder Autor, der zur zeitgenössischen deutschen Literatur gehört, in der »Frankfurter Allgemeinen« publiziert werden könne, und zwar unabhängig von seinen politischen Anschauungen. Die Entscheidung, wer zur zeitgenössischen Literatur zu zählen sei, war mir überlassen. Fest hat Wort gehalten – und wenn ich mich recht entsinne, brauchte ich ihn nie an diese Vereinbarung zu erinnern.
    Immer häufiger ließ ich Arbeiten linker Autoren, natürlich auch Kommunisten, drucken. Ob das den Herausgebern gefiel, weiß ich nicht. Aber niemand hat es zu beanstanden gewagt. Im Mai 1976 brachte ich in der »Frankfurter Anthologie« ein im Gefängnis geschriebenes Gedicht des zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilten Terroristen Peter Paul Zahl. Um die Interpretation bat ich Erich Fried. Jemand sagte: »Noch linker geht es nicht.« Auch dies hat niemand in der »Frankfurter Allgemeinen« mißbilligt.
    Meine Freiheit als Leiter des Literaturteils war also unbegrenzt, und diese Freiheit hat mich manches, was mir in dieser Zeitung nicht gefiel, leichter ertragen lassen. Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe die »Frankfurter Allgemeine« damals zwar täglich gelesen, doch kaum mehr als das Feuilleton und bloß in Ausnahmefällen die Leitartikel. So blieb mir viel Zeit erspart – und mancher Ärger.
    Auf die Gefahr hin, daß ich mich wiederhole: Ich wußte sehr wohl und vergaß es nie, wem ich die Freiheit, von der ich so ausgiebig Gebrauch machte, zu verdanken hatte. Es war Joachim Fest.

 
Genie ist man nur in den Geschäftsstunden
     
    Sollte mich jemand fragen, wer in diesen fünfzehn Jahren der wichtigste und originellste Mitarbeiter des Literaturteils der »Frankfurter Allgemeinen« war, jener, dessen kritische Prosa sich mir am schärfsten eingeprägt hat, ich würde nicht lange nachdenken müssen und Wolfgang Koeppen nennen. Er habe mir, würde ich gleich hinzufügen, in dieser Zeit die größte Freude bereitet und die größte Genugtuung – und freilich auch den größten Kummer.
    Erst spät gelangte ein Buch von Koeppen nach Polen. Es war der Roman »Der Tod in Rom«. Ich konnte ihn bekommen, weil er 1956, zwei Jahre nach der westdeutschen Ausgabe, auch in der DDR erschienen war. Ich tat, was ich konnte, damit er ins Polnische übersetzt wurde – und schrieb, als die polnische Ausgabe Ende 1957 erhältlich war, eine sehr ausführliche, eine begeisterte Kritik. Was mich geradezu hingerissen hat, das war der unerhört suggestive Rhythmus dieser Prosa, ihr neuer Ton. Wenn es einen solchen Schriftsteller wie Koeppen gibt, dann – meinte ich – brauche man sich um die Zukunft der deutschen Nachkriegsliteratur keine Sorgen zu machen.
    Als ich im Dezember 1957 in München war, wollte ich Koeppen unbedingt sehen. In meiner Jugend hat mich im Roman »Das Bildnis des Dorian Gray« des von mir damals geliebten Oscar Wilde manch ein Urteil, manch ein Paradoxon verwundert, so auch dieses: »Gute Künstler leben nur in ihren Werken, und sie sind daher als Persönlichkeit völlig uninteressant.« Noch weniger leuchtete mir ein, was ich bei Plutarch fand: »Verehret die Künste und verachtet die Künstler!« Ich hingegen war sehr zufrieden, als mich einst in Berlin ein Schulfreund in die Wohnung seines verreisten Onkels mitnahm, wo er die Blumen zu gießen hatte. Denn dieser Onkel war ein richtiger Schriftsteller: der schlesische Lyriker und Erzähler Friedrich Bischoff. Auch wenn ich ihn nicht zu sehen bekam, war ich doch glücklich, in seiner Wohnung sein und mich dort umsehen zu können. Um es gleich zu sagen: Meine Neugierde auf berühmte Schriftsteller, zumal mein Bedürfnis, die Autoren der von mir geschätzten Bücher näher kennenzulernen, hat mit der Zeit merklich nachgelassen.
    Im Dezember 1957 saß ich also in einem Münchner Restaurant und freute mich, daß ich gleich mit dem Autor des Romans »Der Tod in Rom« würde sprechen dürfen. Er wird schon sein – dachte ich mir – wie seine poetische Prosa, streng und scharf, etwas böse und ein wenig bissig, jedenfalls ziemlich aggressiv. Aber der Herr, der sich
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