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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Mitternacht« – war in der »Frankfurter Allgemeinen« vom 15. Juni 1974 zu finden, meinen einleitenden Artikel habe ich »Der Dichtung eine Gasse« betitelt.
    Mittlerweile sind in dieser »Anthologie« fast 1300 Beiträge erschienen, die von rund 3 50 Autoren stammen und von rund 280 Interpreten kommentiert wurden. Viele dieser Interpreten – alphabetisch von Rudolf Augstein bis Dieter E. Zimmer – arbeiten in anderen Zeitungen, vor allem in der »Zeit«, im »Spiegel«, in der »Süddeutschen Zeitung« und in der »Neuen Zürcher Zeitung«. Ich wollte, daß die »Frankfurter Anthologie«, ermöglicht und veröffentlicht von der »Frankfurter Allgemeinen«, zugleich als eine deutschsprachige Institution verstanden wird: Alle, die etwas zu deutschen Gedichten zu sagen haben, sollten, sich über den alltäglichen Konkurrenzkampf hinwegsetzend, teilnehmen.
    Viele Zeitungsleser protestierten gegen die Auswahl der Gedichte – in Briefen und mitunter auch in Telegrammen. Wir sollten doch aufhören, die unverständlichen Verse der zeitgenössischen Poeten zu drucken, man wolle mehr von Hölderlin, Eichendorff und Mörike. Es kamen aber auch Beschwerden, man habe es satt, in der »Anthologie« immer wieder Verse von Hölderlin, Eichendorff und Mörike zu lesen, man wünsche moderne Lyriker. Damit bestätigten mir die Briefschreiber, daß ich auf dem richtigen Weg war. Gerade daran war mir gelegen: Die Bewunderer der älteren Dichtung sollten mit Versen zeitgenössischer Autoren vertraut gemacht und die Liebhaber der modernen Lyrik an die deutsche Poesie der Vergangenheit erinnert werden. Aber es kamen auch Beanstandungen anderer Art. Auf die telegrafische Frage »Warum so häufig Goethe?«, antwortete ich, ebenfalls telegrafisch: »Weil Frankfurter Lokalpoet.« Allmählich wurde aus der »Frankfurter Anthologie«, da sie parallel auch in Buchausgaben erscheint (mittlerweile gibt es zweiundzwanzig Bände), eine kleine Bibliothek.
    So war innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit in der »Frankfurter Allgemeinen« ein großes Forum für Literatur entstanden – für die Kritik vor allem, doch zugleich für die Lyrik, die nicht nur in den Wochenendbeilagen, sondern auch auf den täglichen Feuilletonseiten gedruckt wurde, für Romane und Erzählungen, die als Fortsetzungsgeschichten erschienen, für Berichte und Kommentare über das literarische Leben. In Lobreden heißt es gelegentlich, meine Bemühungen würden »dem ebenso grandiosen wie utopischen Versuch gelten, Literatur zu einer öffentlichen Sache zu machen«, ich hätte der deutschen Literaturkritik den Rang einer Institution zurückgegeben. Unter Brüdern: Das ist maßlos übertrieben, ich mache mir da keine Illusionen. Dennoch höre ich derartiges gern, zumal solche Formeln, wie feierlich sie auch klingen mögen, zumindest andeuten, was ich tatsächlich gewollt habe.
    Daß sich die Literatur auf den Seiten der »Frankfurter Allgemeinen« so ausbreitete, traf in der literarischen Öffentlichkeit (von vielen Kollegen in der Zeitung ganz zu schweigen) durchaus nicht nur auf Zustimmung. Zwar nannte man mich immer häufiger »Großkritiker« oder gar »Literaturpapst«, aber es war keineswegs sicher, ob es sich hierbei um respektvoll-freundliche Bezeichnungen handelte oder doch eher um böse, höhnische Schmähworte. Der ironische, der abschätzige, der spöttische Unterton dieser mir zugedachten Kennmarken oder Aushängeschilder entging mir nicht: Ich konnte mich des Verdachts nicht erwehren, daß alles, was man mir nachrühmte, mir zugleich vorgeworfen und zur Last gelegt wurde.
    Je größer mein Erfolg war, desto häufiger bekam ich Neid und Mißgunst zu spüren und mitunter auch unverhohlenen Haß. Ich habe darunter nicht selten gelitten. Aber ich tröstete mich mit Heines schönem Wort, der Haß seiner Feinde dürfe als Bürgschaft gelten, daß er sein Amt nicht ganz schlecht verwalte. Es dauerte nur wenige Jahre, da hieß es klipp und klar, ich hätte ungewöhnlich viel Macht an mich gerissen. Ein längerer Fernsehfilm über mich begann sogar mit der kühnen Behauptung, der von mir geleitete Literaturteil der »Frankfurter Allgemeinen« sei das größte Machtzentrum, das es je in der Geschichte der deutschen Literatur gegeben habe.
    Mit Sicherheit hat das Wort »Macht« keinen guten Klang, man denkt gleich – und nicht ganz zu Unrecht – an Mißbrauch und Willkür: Die Sympathien sind also in der Regel nicht auf der Seite jener, die Macht ausüben, vielmehr
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