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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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bei den Leidtragenden oder gar Opfern. Es stimmt schon: Ich habe mich bemüht, soviel Macht in meinen Händen zu konzentrieren, wie ich es für nötig hielt – und das gilt nicht nur für die redaktionelle Arbeit. Meine Teilnahme am literarischen Leben ging in diesen Jahren weit über die »Frankfurter Allgemeine« hinaus: Ich gehörte vielen Jurys an, ich war 1977 Mitinitiator des Klagenfurter Wettbewerbs um den Ingeborg Bachmann-Preis und bis 1986 der Sprecher der Jury dieses Wettbewerbs.
    Allerdings erlaube ich mir zu fragen: War das für die Literatur gut oder schlecht? Zu wessen Gunsten habe ich fünfzehn Jahre lang in der »Frankfurter Allgemeinen« ein so großes Ressort verwaltet? Ich bildete mir ein und glaube es immer noch: zugunsten der Literatur.
    Vom frühen Morgen bis zum späten Abend habe ich gearbeitet – teils in der Redaktion, teils zu Hause. So gut wie nie hatte ich ein freies Wochenende, und von dem mir zustehenden Urlaub habe ich ungern und nie ganz Gebrauch gemacht. Ich war fleißig, unerhört fleißig. Aber warum eigentlich? Niemand hat es von mir erwartet oder gar verlangt. Was ich tat, mußte ich doch nicht immer und nicht unbedingt selber tun, ich konnte vieles delegieren. Warum also die große Mühe, die unentwegte Anstrengung? Um der Literatur willen? Ja, mit Sicherheit. War es mein Ehrgeiz, die Tradition der Juden in der Geschichte der deutschen Literaturkritik, an die ich doch längst angeknüpft hatte, auf einem leitenden Posten und in aller Öffentlichkeit, vielleicht sogar demonstrativ fortzusetzen? Gewiß. Hatte meine Passion mit meiner Sehnsucht nach einer Heimat zu tun, jener Heimat, die mir fehlte und die ich in der deutschen Literatur glaubte gefunden zu haben? Ja, und möglicherweise in höherem Maße, als es mir bewußt war.
    Alle diese Antworten sind richtig, aber keine trifft des Pudels Kern. Will ich ganz ehrlich sein, so muß ich eine einfache, eine wohl enttäuschende Antwort geben: Hinter meiner Arbeitswut, denn darum handelte es sich letztlich, stand nichts anderes als das Vergnügen, das mir die Tätigkeit in der »Frankfurter Allgemeinen« bereitete. Ich übertreibe nicht, wenn ich hinzufüge: täglich bereitete. Es deckten sich hier ganz und gar: das Hobby und der Job, die Passion und die Profession.
    Die vielen Serien, die man in dieser Zeit in der »Frankfurter Allgemeinen« lesen konnte, habe ich aus mehr oder weniger persönlichen Gründen gemacht. Auf zwei Beispiele will ich mich hier beschränken. Wie hat sich das, was in Deutschland und im deutschen Namen zwischen 1933 und 1945 geschehen ist, im Leben jener widergespiegelt, die in dieser Zeit Kinder und Jugendliche waren? Nicht obwohl, sondern gerade weil auch ich zu den damals Halbwüchsigen gehöre, hat mein Interesse für diese Frage nie nachgelassen. Das führte zur Serie »Meine Schulzeit im Dritten Reich. Erinnerungen deutscher Schriftsteller«, deren Buchausgabe auch heute noch in vielen Schulen benutzt wird.
    Ein anderes Beispiel: Was taugen die deutschen Romane aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die ich in meiner Jugend gelesen hatte? Da ich nicht imstande war, meine Eindrücke und Erinnerungen in allen Fällen selber zu überprüfen, ließ ich diese Frage von vielen Schriftstellern und Journalisten, Kritikern und Wissenschaftlern beantworten. Das Ergebnis war die Serie »Romane von gestern – heute gelesen«, die von Heinrich Manns »Im Schlaraffenland« (1900) bis zu Hermann Brochs »Tod des Vergil« (1945) reicht und 125 deutsche Romane dem zweiten, dem prüfenden Blick aussetzt. So ist ein nicht alltäglicher, in der Buchausgabe dreibändiger Romanführer entstanden.
    Wie war es um die Förderung, gar die Entdeckung junger Talente bestellt? Das ist ein mühseliges Geschäft, meist vergeblich und erfolglos. Es hat mir dennoch Spaß gemacht. Ein Fall zumindest ist mir unvergeßlich. Anfang August 1979 nahm ich an einer Fernsehdiskussion in Wien teil. Es ging um Frauenliteratur, wobei freilich nicht klar war, was die Veranstalter im Sinne hatten: Literatur von, für oder über Frauen?
    Als ich ins Studio kam, waren dort schon vier kampflustige Damen versammelt. Sie schickten sich an, mich, der ich als Feind der Frauenemanzipation, wenn nicht gar des weiblichen Geschlechts galt, vor laufender Kamera zu zerfleischen. Auch ich war angriffslustig, aber mein Interesse an dem bevorstehenden Streitgespräch war schlagartig geschwunden, als ich plötzlich sah, daß eine meiner
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