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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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sie muß zugrunde gehn / wenn man muß schweigend solche Ränke sehn.«
    Die Leibgarde des frevelhaften Königs trug schwarzsilberne Uniformen, die an jene der SS denken ließen, und die Mörder des Herzogs von Clarence waren in braunen Hemden und in Schaftstiefeln zu sehen und erinnerten wiederum an die SA. Großartig und verblüffend war das Finale: Nach den Worten »Das Feld ist unser und der Bluthund tot« wurde es vollkommen dunkel, auf der Bühne und im Zuschauerraum. Nach wenigen Augenblicken gingen alle Lichter plötzlich an, auch im Zuschauerraum. Die Soldaten auf der Bühne sanken in die Knie und stimmten ein gewaltiges Tedeum an, das von allen Seiten des Saales zu hören war.
    Was Fehling, ohne Shakespeares Text zu ändern oder zu ergänzen und ohne etwa eine neue Übersetzung zu verwenden, mit dieser Inszenierung im Sinne hatte, ist unzweifelhaft. Es fragt sich nur, ob die angestrebte Tendenz von den Zuschauern auch wirklich verstanden wurde oder vielleicht bloß von jenen, die ohnehin Gegner des Regimes waren. Ihnen haben die antinazistischen Akzente und die verschiedenen Anspielungen nicht nur im »Richard III.«, sondern mitunter auch in den Aufführungen anderer klassischer Dramen Genugtuung und oft diebische Freude bereitet. Aber haben sich diese mehr oder weniger pfiffigen, meist riskanten und gefährlichen Seitenhiebe und Nadelstiche, die oft an kabarettistische Praktiken erinnerten, denn wirklich gelohnt?
    Ganz sicher bin ich nicht, zumal derartiges – und man sollte es nicht übersehen – leider auch unerwünschte Folgen hatte. Die Tatsache, daß manche Aufführungen, richtiger: daß die in manchen Aufführungen enthaltenen Akzente gegen das »Dritte Reich« geduldet wurden, hat man nicht selten als Zeichen der mittlerweile gewonnenen Selbstsicherheit des neuen Regimes, ja sogar einer gewissen Großzügigkeit gedeutet. Denn das ist absolut sicher: Es wäre absurd zu vermuten, hier und da sei es gelungen, die Nazis übers Ohr zu hauen. Was der Zensor nicht versteht – und das gilt für alle Diktaturen –, versteht das Publikum erst recht nicht. Nur hält es der Polizeistaat bisweilen für opportun, nicht einzuschreiten.
    Natürlich waren gerade mir diese augenzwinkernden, diese heimlichen und unheimlichen Proteste gegen die Tyrannei nicht gleichgültig, aber das Risiko, das die mehr oder weniger rebellierenden Bühnenkünstler auf sich nahmen (ich hatte schon Menschen gesehen, die im Konzentrationslager gewesen waren, und ich konnte diesen Eindruck nicht verdrängen), schien mir in keinem Verhältnis zu den realen Ergebnissen zu stehen. Wie ehrenwert diese Proteste auch waren – ich glaubte nicht, sie wären imstande gewesen, auch nur das Geringste zu verändern. Was also konnte das Theater im »Dritten Reich« leisten, was dem Zuschauer bieten? Bestimmt nicht politische Aufklärung, vielleicht aber dasselbe, was ich ihm damals – unter anderem – verdankte. Man könnte es Kräftezuwachs nennen.
    Wenn ich mir überlege, welche Klassikerinszenierungen mich damals – neben dem »Don Carlos« und »Richard III.« – am tiefsten ergriffen haben, komme ich in Verlegenheit: Ich bin versucht, sehr viele zu nennen. War es wirklich eine den Zeitgeist ignorierende oder im Widerspruch zu ihm stehende Theaterblüte? Oder sehe ich, was mich in jenen Jahren entzückt hat, noch heute mit den Augen des begeisterungsfähigen, des noch sehr jungen Menschen?
    Ich erinnere mich an Lessings »Emilia Galotti«, von Gründgens als aufregend-irritierendes Kammerspiel inszeniert: Da er die Fußböden der Räume mit Steinfliesen belegen ließ, hallten und knallten die Schritte der Männer und erzeugten eine gespannte, wenn nicht aggressive Stimmung. Alle Rollen waren glänzend besetzt, doch am stärksten blieb mir Käthe Dorsch in Erinnerung – sie gab eine Gräfin Orsina, die, empfindsam, nervös und hektisch, melancholisch und exaltiert, zwischen unerbittlicher Klarsicht und ergreifendem Wahnsinn schwankte.
    Der »Götz von Berlichingen« hat mich nie interessiert, er schien mir nur noch ein literarhistorisches Dokument. Aber wenn ich an das Stück denke oder in ihm blättere, sehe und höre ich immer noch Heinrich George. Er spielte diese Rolle großartig und häufig, er war mit ihr verwachsen, sie gehörte nur ihm – so daß niemand es gewagt hat, sich in ihr zu versuchen, jedenfalls nicht in Berlin. Angeblich war George, wenn er den Götz spielte, meist angetrunken. Auch die »Jungfrau von Orleans« mochte

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