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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Krauss kaum vorstellen, zumal wir jetzt, nach dem Tod von Krauss, Gründgens oder Kortner, Schauspieler von einem auch nur im entferntesten vergleichbaren Format und Ansehen nicht mehr haben. Seine Verwandlungsfähigkeit war unbegrenzt: Er spielte in den dreißiger Jahren (mitunter innerhalb einer Woche) den Faust, den Wallenstein und den Kandaules in Hebbels »Gyges und sein Ring«, Richard III. und den König Lear und zwischendurch auch noch den Professor Higgins in Shaws »Pygmalion«, einem seiner besten Lustspiele, das freilich von dem Musical »My Fair Lady« rücksichtslos verdrängt wurde.
    Sollte ich die Frage beantworten, in welcher dieser Rollen er auf mich am stärksten gewirkt hat, würde ich wohl zwischen Wallenstein, Kandaules und Richard III. schwanken. Viele Jahre später habe ich in Hamburg als Wallenstein und als Kandaules Gründgens gesehen. Er war in beiden Rollen erschütternd und virtuos, doch Werner Krauss nicht ebenbürtig: Ihm fehlte jene Unmittelbarkeit und jene elementare Kraft, die so stark, ja, überwältigend waren, daß sie Krauss’ handwerkliches Können, seine Brillanz vergessen ließen. Wenn Gründgens auf der Bühne erschien, begann er gleich zu agieren: Aus seinen Blicken und Bewegungen, aus Worten und Wendungen, aus plötzlichen Pausen und unerwarteten Beschleunigungen ergab sich dann auf wunderbare Weise eine so suggestive wie originelle Figur. Wenn Krauss auf die Bühne kam, war die Figur, die er spielte, sofort da – ohne daß er etwas gesagt oder getan hätte.
    Als König Lear hat er mich ein wenig enttäuscht. Lag das an ihm oder am Stück oder vielleicht an mir? Die Geschichte eines offenbar senilen Greises, der nicht mehr imstande ist, die Welt wahrzunehmen, geschweige denn sie einigermaßen vernünftig zu beurteilen, der sein Reich leichtsinnig verschenkt und auf die Gnade von zwei bösen, niederträchtigen Töchtern angewiesen ist, der vereinsamt und wahnsinnig auf der Heide umherirrt (und zu allem Unglück gibt es auch noch Sturm, Blitz und Donner) – nein, diese Geschichte konnte mich schwerlich überzeugen.
    Aber der »Lear« gehört doch zu den berühmtesten Tragödien der Weltliteratur. Ich wurde unsicher, ich las dies und jenes über das Stück, aber nichts konnte mir helfen oder mich überzeugen – bis ich schließlich eine Kritik Alfred Kerrs aus dem Jahre 1908 fand. Zu meiner Überraschung und Freude las ich über den »Lear«: »Dieses Werk ist mir auf der Bühne heute fast unerträglich, mit den Kinderplumpheiten, den dicken Häufungen, die es neben der Größe zeigt.« Damit war der Fall »König Lear« für mich erledigt – so schien es mir.
    Nach dem Krieg habe ich das Stück mehrfach gesehen, in verschiedenen Sprachen. Allmählich hörte das archaische Märchen auf, mir gleichgültig zu sein. Ich begann die Gründe seines Ruhms zu verstehen. Warum hatte sich mein Verhältnis zu diesem Drama mit den Jahren deutlich geändert? Ich wußte es nicht – bis mir, es ist noch nicht so lange her, ein spätes Goethe-Gedicht aufgefallen ist. Es beginnt mit den Worten: »Ein alter Mann ist stets ein König Lear.« Als Goethe dies schrieb, war er 78 Jahre alt.
    Muß man alt werden, um den »Lear« zu begreifen, zu bewundern? Muß man Jungsein, um sich für »Romeo und Julia« zu begeistern? Ich war dreizehn oder vierzehn Jahre alt, als ich von einer Tante, die von meinem Theaterenthusiasmus wußte, plötzlich angerufen wurde: Ob ich ins Theater gehen wolle, sie habe eine Freikarte, aber ich müßte mich sofort auf den Weg machen, gespielt werde »Romeo und Julia«. Ich fuhr gleich los – zu einem Theater, das sich im Laufe der Jahre mehrfach gezwungen sah, seinen Namen zu wechseln: In der wilhelminischen Zeit hieß es »Theater in der Königgrätzer Straße«, in der Weimarer Republik »Theater in der Stresemann-Straße«, und im »Dritten Reich«
    »Theater in der Saarlandstraße«. Nach dem Zweiten Weltkrieg entschied man sich für eine Bezeichnung, die nicht mehr von der deutschen Geschichte abhängig war: Hebbel-Theater.
    Zu den Shakespeare-Dramen, die ich schon kannte, gehörte »Romeo und Julia« nicht. Und da ich von der Freikarte erst im letzten Augenblick erfuhr, konnte ich das Stück nicht mehr lesen oder mich wenigstens in einem Schauspielführer informieren. Vielleicht hing es auch mit dieser Ahnungslosigkeit zusammen, daß mich »Romeo und Julia« fast aus der Fassung brachte, fast bis zur Sprachlosigkeit, daß mich dieses Stück damals so tief

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