Mein Leben
getroffen hat wie später nur noch eine einzige Shakespeare-Tragödie: »Hamlet«. Mit der Qualität der Aufführung konnte dies wohl kaum zu tun haben: Die Inszenierung war, wenn ich mich recht entsinne, eher ordentlich als hervorragend, den Romeo gab Wolfgang Liebeneiner, der in den nächsten Jahren als Regisseur und als Filmschauspieler sehr erfolgreich werden sollte. Warum also hat mich dieser Theaterabend so aufgewühlt?
Ich hatte schon viele Romane und Erzählungen, Gedichte und Dramen gelesen, in deren Mittelpunkt die Liebe stand. Doch waren sie für mich, der ich noch nicht die geringsten erotischen Erfahrungen gemacht hatte, etwas Abstraktes geblieben. Erst an diesem Abend begriff ich, was Liebe ist. Weil das Theater sinnlicher und anschaulicher ist als die Texte selbst der schönsten Novellen oder Balladen? Nicht nur. Ich spürte, was »Romeo und Julia« von den anderen literarischen Werken unterschied: Es war, zunächst einmal, Shakespeares unheimliche Radikalität, die Unbedingtheit seiner Behandlung dieses Themas.
Zum ersten Mal habe ich verstanden oder vielleicht nur geahnt, daß die Liebe eine Sucht ist, die keine Grenzen kennt, daß das Außersichsein der von ihr Beglückten und Heimgesuchten zu einer Raserei führt, die der ganzen Welt Trotz bietet, zu bieten versucht. Ich habe gespürt, daß die Liebe ein Segen ist und ein Fluch, eine Gnade und ein Verhängnis. Wie von einem Blitz wurde ich von der Entdeckung getroffen, daß Liebe und Tod zueinander gehören, daß wir lieben, weil wir sterben müssen.
Damals, vor über sechzig Jahren, hätte ich die Ursache dieser überwältigenden Wirkung, die Shakespeares »Romeo und Julia« auf mich ausgeübt hat, natürlich nicht zu erklären vermocht. Ich konnte nicht wissen, daß ich, nur wenige Jahre später, die bedrohliche Nähe, die grausame Nachbarschaft von Liebe und Tod selber erleben würde. Daß mir ein Erlebnis bevorstand, so herrlich wie schrecklich: zu lieben, ohne auch nur für einen Augenblick die höchste Todesgefahr vergessen zu können, und also liebend die Nähe des Todes zu ertragen. Was bleibt von Kunst? Robert Musil hat diese Frage gestellt und gleich lapidar beantwortet: »Wir, als Geänderte, bleiben.« Ich zögere nicht zu sagen: »Romeo und Julia« hat mich geändert – und Shakespeares Tragödie des Intellektuellen ebenfalls, also die Geschichte vom Dänenprinzen Hamlet.
»Hamlet« hat meinen Lebensweg oft gekreuzt, mit Sicherheit häufiger als irgendein anderes Drama der Weltliteratur. In der Schule haben wir den »Hamlet« im Englischunterricht gelesen. Ich wundere mich, daß der Lehrer gerade Shakespeares längstes und in mancherlei Hinsicht auch schwierigstes Stück ausgewählt hat, aber ich bin ihm bis heute dafür dankbar. Für fremdsprachige Texte, lateinische zumal, benutzten nicht wenige von uns Schülern die streng verbotenen »Klatschen«: kleine, dünne Hefte, die sich leicht verstecken ließen. Sie enthielten wörtliche Übersetzungen, die uns die Suche im Wörterbuch ersparten. Auch für den »Hamlet« bediente ich mich, die Verbote ignorierend, einer »Klatsche«, einer edlen freilich: der Schlegelschen Übersetzung. Seitdem liebe und schätze ich sie – und daran haben die vielen neueren Übersetzungen, auch wenn sie hier und da den englischen Text genauer wiedergeben, nichts zu ändern vermocht.
Auf der Bühne habe ich den »Hamlet« mindestens zehnmal gesehen – in vier Sprachen (deutsch, englisch, französisch und polnisch) und mit so großen Schauspielern wie Laurence Olivier und Jean-Louis Barrault. Mehrere Verfilmungen kommen hinzu. Ich erwähne dies alles aus zwei Gründen. Erstens: Es wäre peinlich, wollte ich mich dessen rühmen, was ich in meinem Leben geschrieben habe. Aber vielleicht darf man sich bisweilen dessen rühmen, was man zu schreiben unterlassen hat. So habe ich allen Versuchungen widerstanden und nie auch nur den kleinsten Aufsatz über den »Hamlet« verfaßt; ich habe es nicht gewagt. Und zweitens: Was immer ich im Zusammenhang mit dem »Hamlet« erlebt habe, wann immer ich mich an dieses Drama erinnere und wann immer ich mich mit ihm beschäftige, muß ich an Gustaf Gründgens denken.
Werner Krauss habe ich bewundert, Käthe Dorsch beinahe verehrt und Käthe Gold geliebt. Gustaf Gründgens indes hat mich nahezu hypnotisiert. Damit will ich nicht sagen, er sei der größte deutsche Schauspieler in der Zeit meiner Jugend gewesen – als solcher gilt meist Werner Krauss. Aber keiner
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