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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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ohne Absender. Es enthielt das Bändchen der Insel-Bücherei mit Hofmannsthals »Tor und der Tod«. Die Widmung lautete: »Was hört denn nicht in Schmerzen auf.« Da ich keine Adresse fand, konnte ich ihr, die mir dieses Buch geschickt hatte, nicht danken. Aber ich danke ihr immer noch.
    Der Schock, der nicht ausbleiben konnte, war rasch überwunden. Denn die Vorbereitungen für das Abitur nahmen mich stark in Anspruch, und bald begann eine Freundschaft, die, ohne mich zu erregen oder zu verwirren, für mich wichtig wurde. Bei Bekannten meiner Eltern gab es eine Tochter namens Angelika. Sie war fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, interessierte sich für Literatur und Theater und hatte auch selber schon einiges geschrieben, was sogar gedruckt worden war – in der »Jüdischen Rundschau«. Das stellte sich bald als eine Übertreibung heraus: Ihre Gedichte und Prosastücke waren in der Tat gedruckt, doch bloß in der Kinderbeilage dieser »Rundschau«. Ich fand die Arbeiten ziemlich wertlos, doch imponierte es mir, daß man sie veröffentlicht hatte. Vor allem aber: Mir gefiel, was mir sofort auffiel – die Ernsthaftigkeit dieses Mädchens.
    Von Zeit zu Zeit trafen wir uns im Stadtpark Schöneberg, wir unterhielten uns lange über die Dramen Schillers und Kleists, über die Angelika ganz gut Bescheid wußte. Dann führte ich sie in das Werk Shakespeares ein, was mir viel Spaß bereitete. Schließlich landeten wir bei Heines erotischer Lyrik. Das war das einzige Erotische, das es zwischen uns gab. Was uns zusammengeführt hatte, war nicht nur die Liebe zur Literatur, es war auch die Ähnlichkeit unserer Situation. Befragt, wie sie sich denn ihre Zukunft vorstelle, zögerte sie mit der Antwort keinen Augenblick: Sie wolle eine Theaterschule besuchen und Schauspielerin werden. Auch ich konnte mit einer klaren, einer entschiedenen Antwort dienen: Germanistik wolle ich studieren und Kritiker werden.
    Wir wußten beide, daß unsere Pläne weltfremd waren, daß es sich um absurde Träumereien handelte. Wir lebten ja mitten im »Dritten Reich«, wo Juden nicht studieren durften und überhaupt keine beruflichen Chancen hatten. Aber schwärmen und phantasieren konnten wir sehr wohl: Sie sprach von den Rollen, die sie spielen, ich von den Dichtern, über die ich schreiben wollte. Als ich schon in Warschau war, zitierte ich in einem Brief an sie den Heine-Vers: »Mein Kind, wir waren Kinder…« Bald brach der Krieg aus und der Kontakt mit ihr, mit Angelika Hurwicz brach ab.
    Als ich im Winter 1946 in Berlin war, gab es im Deutschen Theater den »Hamlet« mit Horst Caspar in der Titelrolle. Im Programm fiel mir der Name »Angelika Hurwicz« auf. Das konnte, dessen war ich sicher, nur sie sein. Sie hatte also überlebt, sie hatte ihren Willen durchgesetzt, sie stand auf der Bühne eines der besten deutschsprachigen Theater. Nun ja, bloß als Hofdame, also in einer stummen Rolle. Aber so fängt es in der Regel an. Erkennen konnte ich sie allerdings nicht – wohl deshalb, weil sie stark geschminkt war und eine Perücke trug.
    Nach der Vorstellung wartete ich auf sie am Bühneneingang. Die Situation war mir etwas unheimlich. Denn ich trug die Uniform eines polnischen Offiziers, und überdies war es an diesem Eingang beinahe dunkel. Wird sie mich überhaupt erkennen? Steht vielleicht ein steifes, etwas peinliches Gespräch zweier Menschen bevor, die sich fremd geworden sind? Ein kühles Wiedersehen mit dem ersten, dem vorläufig einzigen Menschen, den ich vor dem Krieg in Berlin gekannt hatte und der nun wieder in Berlin war, würde mich mehr enttäuschen, als eine herzliche Begrüßung mich erfreuen könnte. Ich wollte Angelika Hurwicz sehen, aber ich fürchtete mich. Die Feigheit siegte: Ich wartete nicht mehr, ich ging nach Hause. Und obwohl ich noch einige Monate in Berlin war, habe ich sie nicht mehr gesucht.
    Aber Anfang der fünfziger Jahre wurde ihr Name auch in Warschau bekannt, immer häufiger fand ich ihn in den Zeitungen aus der DDR. Andere deutsche Zeitungen gab es damals in Warschau nicht. Sie war also inzwischen eine arrivierte, eine berühmte Schauspielerin geworden. Ihren außerordentlichen Erfolg verdankte sie vor allem der Rolle der stummen Kattrin in Brechts »Mutter Courage«.
    Im Dezember 1952 gastierte Brechts Theater, das »Berliner Ensemble«, in Warschau mit drei Stücken, darunter war auch die »Mutter Courage« – mit Helene Weigel und Angelika Hurwicz in den Hauptrollen. Aus diesem Anlaß fand in der

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