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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Denn sie war Schauspielerin.
    In Berlin hatte sie eine Schauspielschule absolviert, dann war sie beinahe zwei Jahre engagiert – in Hildesheim oder vielleicht gar in Braunschweig. Später hatte sie Aussicht, nach Hannover zu kommen, aber daraus wurde nichts mehr. Denn man schrieb mittlerweile das Jahr 1933, und sie war Jüdin. Bald heiratete sie einen offenbar vermögenden Kaufmann, der kein Jude war. Die Ehe wurde rasch wieder geschieden. Jetzt, Anfang 1938, lebte sie allein, zufällig ganz in unserer Nähe – in einer schön, aber eher anspruchslos eingerichteten Wohnung. So war sie auch gekleidet. Der enge hellbraune Pullover, das blaue Halstuch, der weite dunkelbraune Rock – alles schien sorgfältig ausgewählt und war dennoch unauffällig.
    Was sie mir über das Theater erzählte, ernüchterte mich ein wenig: Daß man an den Provinzbühnen von Kunst nichts wissen wolle, daß vielmehr die Routine herrsche, daß keine Premiere hinreichend vorbereitet werde, daß die Schauspieler fortwährend neue Rollen lernen müßten und daß die Anfänger es besonders schwer hätten. Das alles wußte ich schon. Statt ihr aufmerksam zuzuhören, war ich, wohl etwas zu deutlich, an ihrem Pullover interessiert. Sie merkte es, natürlich. Aber ob ihr Lächeln ermunternd oder abweisend war, vermochte ich nicht zu beurteilen.
    Sie bereite, sagte sie mir, ihre Auswanderung vor, die werde nun demnächst erfolgen. Wann und wohin ich denn emigrieren wolle? Ich müsse erst, antwortete ich zögernd, das Abitur machen, das werde in zwei Monaten abgeschlossen sein. Ja, und dann? Sonst hätte ich noch keinerlei Pläne. Ich schämte mich meiner Ratlosigkeit. Offenbar rührte sie die plötzliche Einsilbigkeit des bis dahin eher gesprächigen jungen Mannes. Sie sagte, nicht unfreundlich, daß ich wohl mehr an Shakespeare als an meiner Zukunft interessiert wäre.
    Wir schwiegen beide, es entstand eine etwas unheimliche Pause. Um sie zu überbrücken, fragte ich sie, ob sie mir nicht etwas vorsprechen könne. Sie zierte sich nicht, sie war gleich einverstanden. Mit raschen Bewegungen machte sie das Deckenlicht aus und verschob ein wenig die Stehlampe. Nun stand sie vor dem Eckkamin, schweigend. Aber es dauerte nicht lange, und sie entschied sich für einen Text, der ihr offenbar für mich geeignet schien. Es war der Auftritt einer Geliebten, geschrieben von einem Neunzehnjährigen: der Monolog des jungen Mädchens aus Hofmannsthals kleinem Spiel »Der Tor und der Tod«. So beginnt er:
     
    Es war doch schön… Denkst du nie mehr daran?
    Freilich, du hast mir weh getan, so weh.
    Allein was hört denn nicht in Schmerzen auf?
     
    Gewiß, dieser schwermütige Rückblick der Geliebten ist, um es vorsichtig auszudrücken, nicht frei vom Rührseligen, er ist bestimmt nicht die allerbeste Literatur. Dennoch liebe ich diese Verse, ich liebe sie wie Rilkes »Cornet«. Daß sie mich immer aufs neue ergreifen, hat mit jener jungen Frau zu tun, von der ich sie im halbdunklen Zimmer zum ersten Mal gehört habe.
    Nach den Worten »leise Lust«, mit denen der Monolog endet, kam sie auf mich zu und sah mich stumm und traurig an. Ich wartete, aber nichts geschah. Plötzlich sagte sie, sie wolle für mich noch ein Gedicht von Hofmannsthal sprechen, das schönste, das sie kenne. Sie meinte die »Terzinen über Vergänglichkeit« mit der herrlichen zweiten Strophe:
     
    Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
    Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:
    Daß alles gleitet und vorüberrinnt.
     
    Als sie geendet hatte, riskierte ich, ziemlich unsicher, einige Bemerkungen, die mir zu Hofmannsthals Lyrik einfielen. Vermutlich waren sie banal, wenn nicht töricht. Sie ignorierte meine Bemühungen mit dem knappen Satz: Herr, es ist Zeit. Ob ich das Rilke-Zitat erkannt habe, weiß ich nicht mehr. Ich nickte, und wir gingen in die Diele. Als ich meinen Mantel vom Hänger nehmen wollte, winkte sie ab und öffnete eine Tür; nicht eine, die ins Treppenhaus führte, sondern ins Nebenzimmer. Es war ziemlich dunkel in diesem Zimmer, das Licht kam von einer sehr kleinen Nachttischlampe, neben der breiten Couch.
    Als ich später durch die menschenleeren Straßen nach Hause ging, schwirrte mir durch den Kopf ein einziger Vers, immer wieder derselbe: »Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt.« Am nächsten Tag schrieb ich ihr einen kurzen Brief. Er blieb unbeantwortet. Drei Wochen später erhielt ich ein dünnes und schmales Postpaket – aufgegeben in Paris, doch

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