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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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wofür ich mich interessierte, nichts gemein hatte: In einer Exportfirma in Charlottenburg, deren Teilhaber ein Jude war und die dennoch aus irgendwelchen Gründen immer noch existieren konnte, fand ich eine Stelle als Lehrling. Die Arbeit war anstrengend und langweilig, aber ich habe nicht darunter gelitten: Sogar eine solche Beschäftigung schien mir besser als gar keine.
    Als ich meinen Chef fragte, was ich denn, sollte es mir gelingen, die Lehre zu Ende zu führen, können werde, antwortete er knapp: »Wenn es gutgeht, Geschäfte machen.« Genau dies habe ich nie gelernt. Aber der, wie sich bald herausstellte, sehr kurzen Lehrzeit verdankte ich zweierlei: Sie bewahrte mich vor depressiven Stimmungen, und ich habe damals schnell gelernt, wie ein gut organisiertes Büro funktioniert.
    Mittlerweile war auch meine Mutter nach Warschau gezogen. Ich lebte in einem winzigen möblierten Zimmer in der Spichernstrasse in Charlottenburg, in der einst Brecht mit Helene Weigel gewohnt hatte. Die Situation der Juden hatte sich im Laufe der Jahre gründlich verändert, also verschlechtert. 1933 und 1934 hörten sie bisweilen von Nichtjuden, von Nachbarn und Bekannten, freundliche und begütigende Worte, meist des Inhalts, es werde sich doch bald alles wieder ändern: »Sie müssen durchhalten.« Den Juden gefielen diese beruhigenden Sprüche aus den frühen Jahren sehr wohl, nur waren sie 1938 nicht mehr zu vernehmen, kein Jude konnte sich noch trösten, es werde nichts so heiß gegessen wie gekocht.
    Verhaftungen, Mißhandlungen und Folterungen ließen die Zahl der unverbesserlichen Optimisten rasch kleiner und die der Auswanderer immer größer werden. Im August 1938 wurde zum Entsetzen nicht nur der Juden die namentliche Kennzeichnung offiziell eingeführt: Jüdinnen wurde ein zusätzlicher Vorname aufgezwungen (»Sara«), den Juden der Name »Israel«. Überdies wurden die Pässe der Juden auf allen Seiten mit einem großen »J« gestempelt.
    Zu den dramatischen und meist grausamen Vorgängen kamen solche hinzu, die unblutig waren, weil sie anderes bezweckten: Sie sollten nicht so sehr einschüchtern als vor allem demütigen. In den Parks und Grünanlagen gab es nunmehr gelbe Bänke mit der Aufschrift »Nur für Juden«. Es versteht sich, daß es nur wenige und ungünstig gelegene Bänke waren . In vielen Restaurants und Kaffeehäusern, in Hotels und Badeanstalten wurden Aufschriften »Juden sind hier unwillkommen« oder »Juden Eintritt verboten« angebracht. Es gab auch Lokale, in denen man es vorzog, auf solche Aufschriften am Eingang zu verzichten und statt dessen denjenigen Juden, die es wagten, diese Lokale dennoch zu betreten, leere Tassen hinzustellen, bisweilen mit einem Zettel: »Juden raus«. In manchen deutschen Städten waren die Verbotsschilder schon am Ortseingang zu sehen.
    Eine große Rolle spielten in dieser Zeit die außenpolitischen Erfolge der Reichsregierung: Nach dem Anschluß Österreichs im März 1938 schien das Regime auf lange Sicht stabilisiert. Gleichwohl stieg die Zahl der Juden, die ihre Emigration vorbereiteten, nur langsam an. Auch meine Schwester und ihr Mann Gerhard Böhm bemühten sich endlich, Deutschland zu verlassen. Sie wollten nach England. Es war ein vager Plan, für den selbst die geringsten Voraussetzungen fehlten. Und sie wollten, sollte ihnen die Emigration gelingen, mich nachkommen lassen. Aber die deutschen Behörden hatten mit mir anderes im Sinn.
    Am 28. Oktober 1938 wurde ich frühmorgens, noch vor 7 Uhr, von einem Schutzmann, der ebenso aussah wie jene Polizisten, die auf den Straßen den Verkehr regelten, energisch geweckt. Nachdem er meinen Paß genauestens geprüft hatte, händigte er mir ein Dokument aus. Ich würde, las ich, aus dem Deutschen Reich ausgewiesen. Ich solle mich, ordnete der Schutzmann an, gleich anziehen und mit ihm kommen. Aber vorerst wollte ich den Ausweisungsbescheid noch einmal lesen. Das wurde genehmigt. Dann erlaubte ich mir, etwas ängstlich einzuwenden, in dem Bescheid sei doch gesagt, ich hätte das Reich innerhalb von vierzehn Tagen zu verlassen – und überdies könne ich auch Einspruch einlegen. Für solche Spitzfindigkeiten war der auffallend gleichgültige Schutzmann nicht zu haben. Er wiederholte streng: »Nein, sofort mitkommen!«
    Daß ich alles, was ich in dem kleinen Zimmer besaß, zurücklassen mußte, versteht sich von selbst. Nur fünf Mark durfte ich mitnehmen und eine Aktentasche. Aber ich wußte nicht recht, was ich in ihr

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