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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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unterbringen sollte. Ich steckte in der Eile nur ein Reservetaschentuch ein und vor allem etwas zu lesen. Ich war gerade mit Balzacs Roman »Die Frau von dreißig Jahren« beschäftigt. Den nahm ich also mit. Sehr aufgeregt war ich offenbar nicht, denn ich dachte noch daran, meine Eintrittskarte für die nächste Premiere am Gendarmenmarkt – gegeben wurde Shaws
    »Arzt am Scheideweg« mit Gründgens und Werner Krauss in den Hauptrollen – meiner Zimmerwirtin zu schenken. Nebenbei bemerkt: Es ist mir nicht viel entgangen, denn trotz der prominenten Besetzung war es, wie ich später hörte, eine nur mittelmäßige Aufführung.
    Der Schutzmann ging mit mir, eher gemächlich, durch die noch dunklen Straßen. Viele Menschen eilten zur Arbeit, die Straßenbahn fuhr wie immer, die Läden wurden schon geöffnet, der Alltag begann, ein Berliner Tag wie jeder andere – nur nicht für mich. Warum? Jemand mußte mich verleumdet haben, denn ohne daß ich etwas Böses getan hätte, bin ich verhaftet worden. Ja, tatsächlich, ich wurde abgeführt. Aber es dauerte nicht lange, und wir, der Schutzmann und ich, waren am Ziel, im Polizeirevier meines Stadtteils.
    Ich sah mich gleich inmitten von zehn oder vielleicht zwanzig Leidensgenossen: Es waren Juden und nur Männer, alle älter als ich, der Achtzehnjährige. Sie sprachen tadellos Deutsch und kein Wort Polnisch. Sie waren in Deutschland geboren oder als ganz kleine Kinder hergekommen und hier zur Schule gegangen. Doch hatten sie allesamt, das erfuhr ich bald, aus irgendwelchen Gründen einen polnischen Paß – ebenso wie ich.
    Wir mußten eine oder zwei Stunden warten, dann wurden wir in »grünen Minnas« zu einem Sammelplatz – es war eine höhere Polizeidienststelle am Sophie-Charlotte-Platz – abtransportiert. Unter freiem Himmel standen dort schon Hunderte von Juden, die, wie sich rasch herausstellte, ebenfalls polnische Staatsangehörige waren. Jetzt begriff ich, daß meine Vermutung falsch gewesen war: Nein, niemand hatte mich verleumdet. Aber ich gehörte einer Gruppe an, die verurteilt war – zunächst nur zur Deportation. Es handelte sich um die erste von den Behörden organisierte Massendeportation von Juden. Ausgewiesen wurden aus Berlin nur Männer, aus anderen deutschen Städten auch Frauen: Insgesamt waren es rund 18000 Juden.
    Erst am späten Nachmittag, als es schon dunkel war, brachte man uns zu einem Nebengleis des Schlesischen Bahnhofs. Dort wartete ein langer Zug. Alles war genau vorbereitet, alles lief ruhig ab, es wurde weder gebrüllt noch geschossen. Offensichtlich sollte die Aktion der Bevölkerung nicht auffallen. Wohin der Zug fuhr, sagte man uns nicht, doch bald war klar, daß die Fahrt in Richtung Osten ging, also zur polnischen Grenze. Wir froren, denn die Waggons waren nicht geheizt, aber jeder hatte einen Sitzplatz. Verglichen mit späteren Transporten waren es noch menschliche, ja nahezu luxuriöse Bedingungen.
    Ich las den Balzac-Roman, der mir schlecht vorkam, der mich überhaupt nicht interessierte. Ob ich vielleicht, fragte ich mich, zu aufgeregt sei, um einen Roman zu lesen, oder ob er wirklich nicht viel tauge? Ich hatte, wie man sieht, noch keine sehr ernsten Sorgen. An der deutschen Grenze mußten wir aus den Waggons steigen und uns in Kolonnen aufstellen. Es war vollkommen dunkel, man hörte laute Kommandos, zahlreiche Schüsse, gellende Schreie. Dann kam ein Zug an. Es war ein kurzer polnischer Zug, in den uns die deutschen Polizisten brutal hineinjagten.
    In den Waggons war es drängend voll. Sofort wurden die Türen kräftig zugeschlagen und plombiert, der Zug fuhr ab. Jetzt blieben wir, die Ausgewiesenen, unter uns, darunter auch Frauen aus verschiedenen Städten. Sie hatte man meist mitten in der Nacht verhaftet, ihnen wurde häufig nicht erlaubt, sich anzuziehen: Sie waren nur mit einem Nachthemd und einem Mantel bekleidet. Dicht vor mir stand ein dunkelhaariges Mädchen aus Hannover, wohl zwanzig Jahre alt. Mit Tränen in den Augen stellte sie mir Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Es wurde immer enger. Plötzlich streichelte sie mich und drückte meine Hand an ihre Brust. Ich war überrascht, ich wollte etwas sagen. Jemand schob mich weg, sie rief mir zwei, drei Worte zu, vielleicht war es eine Adresse. Ich habe sie nicht verstanden.
    Was würde in Polen aus mir werden? Je mehr wir uns dem (vorerst unbekannten) Ziel der Reise näherten, desto mehr irritierte mich die einfache Frage nach meiner Zukunft. Sie schien

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