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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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oder gar gründlich sind meine Kenntnisse der polnischen Literatur bis heute nicht. Aber die Hinweise und Kommentare des verkrachten Juristen entbehrten nicht einer gewissen Systematik, die Sprache, die melodiös und verführerisch, aber gar nicht leicht ist, beherrschte ich zusehends besser. Bald war ich auch in der Lage, eine Entdeckung zu machen, mit der ich überhaupt nicht gerechnet hatte und die, wenig später, in meinem Leben eine nicht unwichtige Rolle spielen sollte. In den ersten Monaten des Jahres 1939 entdeckte ich die polnische Poesie, zumal die moderne, die zeitgenössische.
    Mich verblüffte ihr elegischer, ihr schwermütiger Ton, den ihr Witz und ihre Ironie nie schwächen oder gar in Frage stellen. Mich entzückte, was diese Dichtung ebenso charakterisiert wie adelt: die eindringliche Passion und die beschwingte Perfektion. Mich begeisterte die selbstverständliche, die ganz natürliche Einheit von Vitalität und Musikalität. Zu meiner Verwunderung stand mir manches in den Versen dieser Poeten doch etwas näher als in jenen Rilkes oder Georges, die ich, von einigen Gedichten Rilkes abgesehen, eher bewundert als geliebt habe. Vielleicht hatte das damit zu tun, daß die Polen, die meist Lyriker und Satiriker zugleich waren, mich bisweilen an Heine erinnerten und hier und da an Brecht. Ihre Verse lesend, dachte ich auch – das liegt so nahe, daß ich mich etwas geniere, es zu sagen – an die Mazurken und Polonaisen von Chopin, an seine Präludien und Balladen.
    In der Tat: Neben dem Werk Chopins ist die Lyrik das Schönste, was die Polen zur europäischen Kunst beigetragen haben. Ich glaube dies nach wie vor. Allerdings hat sich Europa um die polnische Dichtung nie viel gekümmert. Das ist so bedauerlich wie verständlich, aber es ist das Unglück dieser Literatur: Denn der polnische Roman geht nur in wenigen Fällen über das Mittelmaß hinaus und das polnische Drama, wenn es nicht ein Versdrama ist, gleichfalls. Die polnische Poesie leistet aber den Versuchen, sie in eine andere Sprache zu übertragen, hartnäckigen Widerstand: Gewiß, wir haben auch ordentliche, beachtliche Übersetzungen ins Deutsche, wirklich gute Übersetzungen sind indes sehr selten.
    Was mir an dieser Lyrik besonders reizvoll und anziehend schien, fand ich vor allem in den Gedichten der kurz nach dem Ersten Weltkrieg bekanntgewordenen Poeten, die man in ihrem Vaterland nach der von ihnen gegründeten Zeitschrift die »Skamandriten« nannte. Der größte unter ihnen war ein Dichter von unvergleichbarer Vielseitigkeit: Julian Tuwim, geboren 1894 als Sohn eines jüdischen Buchhalters in Lodz. In den zwanziger Jahren stieg er zu dem am meisten geschätzten und gerühmten und zugleich zu dem am häufigsten attackierten Lyriker und Satiriker Polens auf. Daß er nicht vergast wurde, verdankte er lediglich dem Umstand, daß es ihm gelungen war, rechtzeitig nach Frankreich zu fliehen und von dort in die Vereinigten Staaten.
    Anfang der fünfziger Jahre habe ich mit ihm gelegentlich im Cafe des Polnischen Schriftstellerverbands in Warschau plaudern dürfen. Tuwim war ein stiller, überaus liebenswürdiger Mensch. Aber je bescheidener er sich gab – und es war eine etwas zu deutlich betonte, eine wohl kokette Bescheidenheit –, desto mehr hatte ich den Eindruck, daß der schlanke, anmutige Herr, 56 oder 57 Jahre alt, sich dezent in Szene setzte und also eine Rolle spielte.
    Doch bin ich ziemlich sicher, daß ich mich dieses Eindrucks im Gespräch etwa mit Heine oder Rilke, mit Stefan George oder gar mit Else Lasker-Schüler ebenfalls nicht hätte erwehren können. Sollte es etwa zutreffen, daß die Lyriker mehr als die Dramatiker oder die Romanciers zum Komödiantentum im Alltag neigen? Das ist eine nicht ganz falsche und doch etwas riskante Vermutung. Denn Gerhart Hauptmann oder Thomas Mann gehören ja durchaus nicht zu den Lyrikern, aber bei ihnen war unübersehbar, was wir zwar belächeln, doch gerade diesen beiden rasch zu verzeihen bereit sind – ausgeprägte Eitelkeit und bares Komödiantentum.
    In einem dieser Gespräche fragte ich Tuwim nach seinem Verhältnis zur deutschen Literatur. Er antwortete, anders als sonst, sehr wortkarg: Die Sprache der Deutschen sei ihm unverständlich und deren Literatur unbekannt. Das war offensichtlich unwahr. Ich dachte an ein Wort aus dem »Faust«: »Ich höre doppelt, was er spricht, / Und dennoch überzeugts mich nicht.« Denn schließlich sprachen gebildete Juden, die vor dem Ersten

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