Mein Leben
mir genauso düster, genauso undurchschaubar wie die Wälder, durch die wir jetzt langsam fuhren. Ruckartig hielt der Zug. Wir waren im polnischen Grenzort angelangt, durften aber nicht aussteigen. Erst nach einigen weiteren Stunden wurden die plombierten Waggontüren geöffnet.
Was sollte ich in dem Land machen, das mir vollkommen fremd war, dessen Sprache ich zwar verstand, doch nur mühselig und kümmerlich sprechen konnte? Was sollte ich in Polen anfangen, ich, der ich keinen Beruf hatte und auch keine Chance sah, dort einen zu erlernen? Mein Gepäck, das war jene Aktentasche mit dem Balzac-Roman und dem Reservetaschentuch.
Aber ich hatte noch etwas auf die Reise mitgenommen, was freilich unsichtbar war. Daran dachte ich nicht in jenem kalten Eisenbahnzug, der mich aus Deutschland deportierte. Ich konnte damals nicht ahnen, welche Rolle in meinem künftigen Leben diesem unsichtbaren, diesem, wie ich befürchtete, jetzt unnützen und überflüssigen Gepäck dereinst zufallen würde. Denn ich hatte aus dem Land, aus dem ich nun vertrieben wurde, die Sprache mitgenommen, die deutsche, und die Literatur, die deutsche.
ZWEITER TEIL
von 1938 bis 1944
Die Poesie und der Krieg
So war ich nach Polen gekommen – in mein Geburtsland, das nun mein Exil wurde. Alles war mir hier fremd, und ein wenig fremd ist mir Polen immer geblieben. Dabei hatte ich es zunächst gar nicht so schlecht, mit Sicherheit besser als die meisten der im Herbst 1938 aus Deutschland ausgewiesenen Juden. Mein Bruder und meine Eltern hatten in Warschau eine gemeinsame Wohnung, in der sich auch noch seine zahnärztliche Praxis befand. So klein diese Wohnung auch war – natürlich fand sich Platz, um für mich ein Feldbett aufzustellen. Überdies konnte ich mich polnisch verständigen.
Aber ich wußte nicht, was ich tun sollte. Niemand wußte es. Vom Studium konnte keine Rede sein, schon aus finanziellen Gründen. Und wer sollte mich beschäftigen? Ich war ein arbeitsloser, ein überflüssiger Mensch. Immerhin erwies sich das einzige, das ich konnte – Deutsch –, vorerst als nützlich. Ich gab ein wenig Deutschunterricht, vor allem Nachhilfeunterricht für Schüler, denen die Schule Schwierigkeiten bereitete. Damit verdiente ich nicht viel, doch genug, um mir ziemlich häufig Theater- und Konzertkarten, möglichst billige, versteht sich, beschaffen zu können.
Den ersten schönen Augenblick erlebte ich in Warschau in einem Konzertsaal. Es war ein Symphoniekonzert, dirigiert von einem jungen Mann, der aus Wien stammte und der noch heute bekannt ist, wenn auch eher als Musik-Wissenschaftler: Kurt Pahlen. Das Konzert begann mit Mozarts »Kleiner Nachtmusik« – sie war damals bei weitem nicht so abgegriffen wie heute –, und schon fühlte ich mich etwas besser, etwas weniger einsam. Als 1995 im Salzburger Großen Festspielhaus während einer Pause ein vornehmer Herr im Foyer auf mich zutrat, sich höflich vorstellte und sich sogleich bei mir für irgend etwas, was ich irgendwo geschrieben hatte, bedanken wollte, winkte ich rasch ab und sagte ihm, Kurt Pahlen: »Wenn hier jemand zu danken hat, dann bin ich es. Ihre Konzerte haben mir geholfen, ich habe Sie nie vergessen.« Zwei ältere Herrn im Smoking standen sich gerührt gegenüber.
Freudvoll und leidvoll zugleich – das war meine Situation damals in Warschau. Ich hatte, was Arbeitslose immer haben: viel Zeit. So konnte ich mich auf die Suche machen. Wonach? Auch in Polen suchte ich die deutsche Literatur. Meine Bibliothek mit vielen nicht sehr guten Klassikerausgaben, mit zahllosen verramschten Büchern und jenen, die mir der liebenswürdige Chemiker vor seiner Auswanderung »geliehen« hatte, war in Berlin geblieben.
Doch was ich jetzt haben wollte, fand ich überraschend schnell: Ich war begierig zu erfahren, was Thomas und Heinrich Mann, Arnold und Stefan Zweig, Döblin und Joseph Roth, Werfel, Feuchtwanger und Brecht, was sie alle nach 1933, in der Emigration also, geschrieben hatten. Das war nicht schwierig, denn es gab damals in Warschau viele private Leihbibliotheken, und manche waren mit deutschen Büchern gut versorgt. Ein Freund meines Bruders, ein verkrachter Jurist mit einer heimlichen Liebe zur Literatur, schlug mir ein Tauschgeschäft vor: Ich sollte zwei- oder dreimal in der Woche mit ihm deutsche Konversation machen, er würde mich dafür in die Geschichte der polnischen Literatur einführen. Ich war gleich einverstanden, und ich habe es nie bedauert.
Solide
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