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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Botschaft der DDR ein Empfang statt. Geladen waren vor allem Kritiker: Man wollte ihnen die Gelegenheit geben, mit den Hauptdarstellern zu sprechen. Ich stand in einem nahezu leeren Raum, in dem mich vor allem der Bücherschrank interessierte. Lange konnte ich mich mit den überraschend sauberen Bänden nicht beschäftigen, denn ins Zimmer kam Angelika Hurwicz, geführt von einem der Warschauer DDR-Diplomaten. Er fragte artig: »Darf ich vorstellen?« Beide, sie und ich, sagten wir gleichzeitig: »Ist nicht nötig.« Wir haben dann miteinander geredet – ein wenig gleich in der Botschaft, erheblich mehr in den nächsten Tagen.
    Wir gingen spazieren, wie einst in Berlin. Die Fremdheit, die ich befürchtete, war nicht zu spüren. Sie erzählte mir, wie es ihr ergangen war, wie sie es geschafft hatte, nicht vergast zu werden: Bei einer sudetendeutschen Wanderschmiere, einem kleinen Familienunternehmen alten Stils, war sie engagiert gewesen. Als Schauspielerin? Ja, das schon – und sie hatte unentwegt neue Rollen zu lernen. Doch zugleich mußte sie tun, was eben nötig war: soufflieren, Kulissen schieben, den Vorhang ziehen, an der Kasse sitzen und ähnliches. Das sei nicht leicht gewesen, aber niemand habe sich um ihre Personaldokumente gekümmert, niemand habe es interessiert, ob sie denn vielleicht eine Jüdin sei. Dann hatte ich zu berichten, was mit mir in diesen Jahren geschehen war. Plötzlich schaute Angelika Hurwicz mich ein wenig verwirrt an, als sei ihr etwas peinlich: »Entschuldige« – sagte sie –, »ich weiß ja gar nicht, was du machst. Was hast du denn für einen Beruf?« Ich antwortete knapp: »Nun ja, ich bin Kritiker geworden, ich schreibe über deutsche Literatur.«
    Sie schwieg, und ich wußte nicht recht, wie ich dieses Schweigen verstehen sollte. Erst nach einer Weile begann sie langsam und nachdenklich zu reden: »Mitten im ›Dritten Reich‹ haben wir, zwei halbwüchsige Juden in einer verzweifelten, einer hoffnungslosen Situation, von einer Zukunft gesprochen, an die wir keinen Augenblick ernsthaft glauben konnten. Wie sollte denn damals eine Jüdin Schauspielerin und ein Jude Kritiker werden? Aber diesen Luxus haben wir uns doch geleistet – von einem Leben mit dem Theater und mit der Literatur zu träumen. Unsere Träume waren es wohl, die uns damals verbündet haben. Und es ist kaum zu fassen: Unsere Träume haben sich tatsächlich erfüllt. Während man die Unsrigen gemordet hat, wurden wir verschont: Wir wurden nicht erschlagen, nicht umgebracht, nicht ausgerottet, nicht vergast. Wir haben überlebt, ohne es verdient zu haben. Wir verdanken es nur dem Zufall. Wir sind die aus unbegreiflichen Gründen auserwählten Kinder des Grauens. Wir sind Gezeichnete, und wir werden es bleiben bis zu unseren letzten Tagen. Bist du dir dessen bewußt, weißt du das?« – »Ja«, sagte ich, »ich bin mir dessen bewußt.«

 
Mit unsichtbarem Gepäck
     
    Je mehr sich die Abschlußprüfung näherte, desto größer wurde meine Angst. Nicht die Prüfung fürchtete ich, nicht eventuelle Schikanen der Lehrer und schon gar nicht der Mitschüler. Ich fürchtete auch nicht, mir, der ich als Jude leicht erkennbar bin, hätte auf der Straße oder in einem öffentlichen Verkehrsmittel etwas zustoßen können. Nein, ich hatte damals in Berlin – und das mag heute verwundern –  keine Feindseligkeiten zu ertragen, jedenfalls habe ich keine bemerkt.
    Wovor ich aber unentwegt Angst hatte, das waren weitere gegen die Juden gerichtete behördliche Anordnungen, solche zumal, die mein Leben hätten verdüstern, ja zur Hölle machen können. Täglich suchte ich in der Zeitung – wir abonnierten, da es das »Berliner Tageblatt« nicht mehr gab, die »Deutsche Allgemeine Zeitung« – vor allem Nachrichten über neue judenfeindliche Maßnahmen. Sie fanden sich immer wieder, aber vorerst nicht jene, die mich am meisten angingen: Mich verfolgte der Gedanke, man werde die Juden von den deutschen Schulen vertreiben oder sie zumindest vom Abitur ausschließen. Wie denn: kein Abitur? Das wäre für mich, davon war ich damals tatsächlich überzeugt, eine folgenschwere Katastrophe gewesen.
    Schließlich wurden die wenigen 1938 noch im Fichte-Gymnasium verbliebenen jüdischen Schüler doch nicht entfernt, und wir wurden zur Prüfung zugelassen. Warum? Ich wußte es damals nicht, ich habe den Grund genau ein halbes Jahrhundert später erfahren: Er hatte mit einer persönlichen Entscheidung Hitlers zu tun. Ende 1936 wurde

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