Mein Leben
Weltkrieg in Lodz aufgewachsen waren, nahezu alle Deutsch. Auch hatte er – ich erlaubte mir, dies respektvoll zu bemerken – einiges aus dem Deutschen übertragen, so Gedichte von Hebbel und Gottfried Keller sowie Possen von Nestroy und, besonders schön, Lyrik von Heine. Aber das sei doch, antwortete er kühl, in einer ganz anderen Zeit gewesen – und wechselte rasch das Thema.
Eine Freundin, der ich nachher über dieses Gespräch berichtete, meinte: »Es erstaunt mich, daß du dich wunderst. Viele seiner Angehörigen wurden von Deutschen ermordet, auch seine Mutter. Das ist für ihn noch kein Grund, etwas Abfälliges über die deutsche Sprache oder die deutsche Literatur zu sagen. Aber er will damit nichts, gar nichts mehr zu tun haben. Er hat dir das nicht deutlicher gesagt, denn er ist ein taktvoller Mensch, und natürlich weiß er, womit du dich beschäftigst; er wollte dich nicht kränken. Vielleicht hat er sich im stillen über dich ein wenig gewundert. Das ist alles.«
Wenn ich mit Tuwim Kaffee trank, konnte ich auch nicht für einen Augenblick vergessen, daß der mir gegenüber sitzende vornehme Herr ein genialer Poet war, überdies einer, dem ich sehr viel verdankte. Ähnliches habe ich nur noch ein einziges Mal erlebt – im Gespräch mit Bertolt Brecht. Tuwim starb während eines Urlaubs in dem Kurort Zakopane in der Hohen Tatra, Ende Dezember 1953 – er wurde nicht einmal sechzig Jahre alt. Die Beerdigung fand in Warschau statt. Der Sarg, auf einem großen, offenen Wagen aufgestellt, wurde langsam durch die trübe Stadt gefahren. Ihm folgten viele weitere Autos mit den wenigen Angehörigen Tuwims und mit vielen, auffallend vielen Vertretern des Staates und der Behörden. Am Ende fuhr ein Autobus mit Mitgliedern des Polnischen Schriftstellerverbands, die an der Beisetzung teilnehmen wollten.
Einen regelrechten Trauerzug gab es nicht, die Überführung des Leichnams zum Friedhof war also kein Schauspiel. Dennoch und trotz des Frostes säumten viele Menschen die Straßen. Es waren vorwiegend Frauen. Alle hatten sie – und das schien mir das Ungewöhnliche – ihre Kinder mitgebracht. Denn zu Tuwims Werk gehören über dreißig Gedichte für Kinder. Ihr Erfolg war außergewöhnlich: Es gab und gibt in ganz Polen nur wenige Kinder, die nicht das eine oder andere dieser Gedichte auswendig können. Nun also erwiesen sie dem toten Poeten die letzte Ehre.
Auf dem Friedhof waren Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen versammelt. Es sprach Polens Ministerpräsident. Von seiner Trauerrede habe ich, da ich ziemlich weit hinten stand, nicht viel verstehen können. Aber es fiel mir auf, daß die Schriftsteller, mit denen ich im Autobus gekommen war, Tränen in den Augen hatten. Sie gaben sich keine Mühe, dies zu verbergen – dabei ist es doch in diesem Gewerbe üblich, Rührung nicht zu zeigen, sondern zu bewirken.
Als ich mich 1939 zum ersten Mal mit polnischer Dichtung beschäftigte, hat sie mich, zusammen mit der deutschen Exilliteratur, gerettet, genauer: vor einer Depression bewahrt. Die zahnärztliche Praxis meines Bruders ging gut, er hatte sehr viel zu tun und konnte den größten Teil des Lebensunterhalts unserer Familie aufbringen. Mein Vater plante die Gründung einer neuen Firma, er führte allerlei Verhandlungen, und schließlich wurde diese Firma tatsächlich gegründet – in dem hierzu am wenigsten geeigneten Augenblick: im Juli oder August 1939. Die Sache brachte, wie nicht anders zu erwarten war, Spesen – und sonst nichts. Meine Mutter führte den Haushalt. Ich aber war ein Nichtstuer, wenn auch nicht unbedingt ein Faulenzer: Denn ich las unentwegt Romane und Gedichte – und hatte keinerlei Aussicht für die Zukunft. Natürlich litt ich darunter, wenn auch nicht lange. Die Weltgeschichte erlöste mich. Denn es war gekommen, was viele befürchteten und nicht wenige erhofften: der Krieg.
Die höchst gespannte Lage im August 1939 – das Stichwort hieß »Nervenkrieg« – schien uns entsetzlich, das sei, meinten beinahe alle, gar nicht mehr auszuhalten. Doch gab es auch ruhige, vernünftige Menschen, die uns warnten: Ihr werdet euch nach diesem Nervenkrieg noch zurücksehnen. Die Nachricht vom deutschen Überfall auf Polen haben wir dann, so unwahrscheinlich dies auch anmuten mag, mit Erleichterung, mit befreitem Aufatmen zur Kenntnis genommen. Und als am 3. September Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg erklärten, konnte sich das Volk vor lauter Glück kaum
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