Mein Leben
beherrschen: Die Stimmung war – und nicht nur in Warschau – enthusiastisch. Ich schickte meiner Schwester, die zusammen mit ihrem Mann seit wenigen Wochen in London lebte, gleich eine Postkarte: Es werde gewiß nicht leicht, ja vielleicht schrecklich werden, aber wir seien guten Mutes, denn an der Niederlage Deutschlands hätten wir nicht den geringsten Zweifel. Die Postkarte ist nie angekommen.
Ob das nun für oder gegen mich spricht: Des Sieges der Alliierten war ich den ganzen Krieg über sicher, da gab es keinen Augenblick der Ungewißheit. Sogar an den unentwegt sonnigen, für uns aber düstersten Tagen unmittelbar nach der Eroberung von Paris kam meine Überzeugung für keinen Augenblick ins Wanken. War das nur Wunschdenken? Nein, wahrscheinlich nicht. Woher nahm ich also diese Sicherheit? Daran war wohl das preußische Gymnasium schuld, das mir immer wieder, auch im Deutschunterricht, beigebracht hatte, daß in der Geschichte der Menschheit letztlich stets die gerechte Sache triumphiere.
So sicher ich war, daß der Krieg mit der Niederlage Hitlers und der Seinen enden werde, so sehr befürchtete ich – und sagte es meinen Freunden damals immer wieder –, daß den Juden Grausames bevorstehe. Ich habe das, was dann tatsächlich geschehen ist, weder vorausgesagt noch vorausgeahnt, nur meinte ich, daß man einem Regime, das die »Kristallnacht« – sie fand wenige Tage nach meiner Deportation statt – organisiert hatte, auch das Schrecklichste zutrauen könne und müsse.
Die Freude über den Kriegsbeitritt der Alliierten wurde bald von Panik abgelöst. Noch unlängst hatte man in polnischen Zeitungen lesen können, das deutsche Heer sei unzureichend ausgerüstet, viele Offiziere und Soldaten seien Hitlergegner und somit potentielle Deserteure. Allen Ernstes wurde die Ansicht geäußert, der jämmerliche Zustand der meisten polnischen Chausseen und Wege würde den Vormarsch der deutschen Tanks und Panzerwagen erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen – und somit Polen zum Vorteil ausschlagen. Doch kam alles anders, als die unverbesserlichen polnischen Optimisten lauthals prophezeit hatten: Die deutschen Armeen triumphierten, und gleich hörte man in Warschau von ungeheuerlichen Grausamkeiten der deutschen Soldaten: Sie würden in den besetzten polnischen Ortschaften den Männern, zumal den Juden, die Zungen abschneiden und bisweilen auch die Hoden. Wenige glaubten an diese Gerüchte. Gleichwohl verbreiteten sie Furcht und Schrecken.
Am 7. September teilte ein Oberst des polnischen Generalstabs über den Rundfunk mit, daß sich die deutschen Panzer Warschau näherten. Er appellierte an alle waffenfähigen Männer, die Stadt sofort zu verlassen und sich in östliche Richtung zu begeben. Dem entnahm man, daß eine Verteidigung der polnischen Hauptstadt überhaupt nicht geplant sei, daß vielmehr das Oberkommando der polnischen Armee es für richtiger halte, sich zurückzuziehen und eine Verteidigungsfront irgendwo östlich der Weichsel zu errichten. Die überwiegende Mehrheit der jungen Männer folgte sofort diesem Aufruf und verließ Warschau in größter Eile – meist ohne Gepäck und ohne zu wissen, wohin sie fahren oder gehen sollten. Ein heilloses Chaos brach über die Stadt herein. Die Regierung und das Oberkommando der Armee, erfuhr man bald, seien schon nach Rumänien geflohen und jener Oberst des Generalstabs habe eigenmächtig und verantwortungslos gehandelt. Die Stadt solle keineswegs den Deutschen kampflos in die Hände fallen, sondern um jeden Preis verteidigt werden.
Meinem Bruder und mir bot sich überraschend die Chance, Warschau mit einem Auto zu verlassen. Verwandte hatten zusammen mit mehreren Bekannten einen großen Lastwagen gemietet, mit dem sie wie alle anderen in östlicher Richtung fliehen wollten. Sie nahmen uns mit. Man konnte sich nicht vorstellen, daß die Deutschen ganz Polen besetzen würden, ein Teil des Landes würde vielleicht doch unter polnischer Verwaltung bleiben – und dort ließe sich eventuell überwintern. Nur überwintern? Das würde schon genügen, denn alle glaubten (ich ebenfalls), im Laufe des Jahres 1940, spätestens 1941 würden die Alliierten die Deutschen endgültig besiegen. Überdies meinten wir, durch die Flucht in den Osten könne man dem Bombardement Warschaus entgehen. Unsere Eltern allerdings blieben in der Stadt. Älteren Menschen, meinten wir, würden die Deutschen nichts antun.
Aber wohin wir in unserem Lastwagen auch kamen, die Unheil
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