Mein Mann der Moerder
ganzen Schulzeit über mir hing wie eine drohende Gewitterwolke, nur verhindern konnte, indem ich gute Noten bekam und sie abschreiben ließ, schien in der Kirche niemand etwas von mir zu verlangen.
Als Dank dafür, dass ich so selbstverständlich in diese Christenfamilie aufgenommen worden war, bemühte ich mich, besonders lieb zu sein. Ich war immer nett zu allen und machte mich nützlich, wann immer es ging. Ich deckte den Tisch in der Teestube. Wusch freiwillig ab. Und zwar jedes Mal. »Lasst mal, ich mache das doch gerne«, log ich. Mein Lächeln diente mir als Schutzschild. Ich lächelte so gut wie nie aus Freundlichkeit, sondern allein aus Furcht, die einem tiefen Gefühl der Minderwertigkeit entsprang. Mein Lächeln war ein Zeichen der Unterwerfung. Ich schickte es voraus, um mein Gegenüber gnädig zu stimmen.
Während Gleichaltrige mich trotzdem ablehnten, weil sie intuitiv spürten, dass ich mich vor ihnen duckte, kam meine Art bei den Erwachsenen gut an. Wenn ich in der Adventszeit bei der Aufführung der Weihnachtsgeschichte die Maria spielen sollte, der alte Diakon fragte mich drei Jahre lang hintereinander, lehnte ich mit Rücksicht auf die anderen Mädchen ab. Für sie war es wichtig, in der Hauptrolle zu glänzen, weil die ganze Familie im Publikum saß. Die Eltern mit der Oma, manchmal fieberten sogar Tanten und Onkel im Gemeindehaus der Geburt Jesu entgegen. Meine Mutter kam sowieso nie in die Vorstellung. Warum also sollte ich die Hauptrolle spielen? Ich begnügte mich mit Statistenrollen unwichtiger Engel, die den Rand der Bühne schmückten.
Solange ich denken kann, feierten wir zu Hause kein Weihnachten. Meine Mutter hatte für den von mir so geliebten Jesus nur Spott übrig: »Jesus war der größte Sektenführer aller Zeiten«, fauchte sie verächtlich, als ich sie einmal fragte, ob wir nicht seinen Geburtstag feiern wollten.
Obwohl meine Mutter vorgab, dass ihr Weihnachten nichts bedeutete, wirkte sie über die Feiertage immer besonders deprimiert, spülte ihre Tabletten mit viel Wein hinunter, sodass sie schon am Nachmittag völlig weggetreten war und im Tiefschlaf in ihrem Bett lag. Neben ihr auf dem Fußboden die leeren Weinflaschen. Ihren pfeifenden Atem im Ohr, schloss ich leise die Wohnungstür hinter mir, ging allein in die Kirche. Anschließend holte mich Frau Wilhelms zu sich nach oben in ihre Wohnung, wenn sie ihre Kinder beschert hatte. Ich durfte dann mit der ganzen Familie essen. Unterm Christbaum lag immer auch eine Kleinigkeit für mich, meistens ein Buch, ein Schal oder ein warmer Pullover, den ich gut gebrauchen konnte.
Als ich dreizehn Jahre alt war, löste Peter den alten Diakon ab, der in Rente ging. Peter übernahm die Jugendgruppe und gab Konfirmandenunterricht, wenn der Pfarrer keine Zeit hatte. Wir durften Peter duzen, worauf wir alle sehr stolz waren. Während wir mit dem alten Diakon meist in der Teestube gesessen und brav über christlich gefärbte Themen diskutiert oder das Krippenspiel vorbereitet hatten, fuhr Peter mit uns ins Theater oder ins Museum, nahm uns mit auf Lesungen, wo wir den Schriftstellern Fragen stellten, die wir uns vorher in der Teestunde überlegt hatten. Wir feierten Feten, auf denen wir zu vorgerückter Stunde auf dem Boden knieten und zur Musik von AC/DC unsere Köpfe hin und her warfen wie im Wahn. Anschließend brach Peter mit uns zu einer Nachtwanderung in den Wald auf und brachte uns das Morsealphabet bei, sodass wir uns in der Dunkelheit durch das Blinken unserer Taschenlampen verständigen konnten.
Pfarrer und Kirchenvorstand waren zunächst alles andere als begeistert. Vor allem unser nächtlicher Ausflug brachte Peter, obwohl wir alle wohlbehalten zurückgekehrt waren, viel Ärger ein. Doch er hatte enormen Zulauf, vielleicht, weil er in der örtlichen Presse ausdrücklich zum O ffenen Treff für Jugendliche einlud. Und als immer mehr Eltern ihre Kinder zum Konfirmandenunterricht bei Peter anmeldeten und deshalb nachträglich in die Kirche eintraten, hatte Peter in der Gemeinde Narrenfreiheit. Nur die Nachtwanderungen ließ er sich fortan von den Eltern genehmigen.
Wie alle Mädchen himmelte ich ihn an. Nicht nur, weil er so gut aussah. Obwohl er schon Mitte dreißig war, hatte er etwas von einem Lausbuben. Sein blondes Haar stand immer leicht strubbelig vom Kopf ab, weil sich seine widerspenstigen Naturlocken der Bürste widersetzten. In seinen brauen Augen lag eine Güte, wie nur Christenmenschen sie ausstrahlen
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