Mein Mutiger Engel
Highsons Augen sah. "Ich wünschte, er könnte die gute Nachricht gleich erfahren. Wenn ich daran denke, wie er sich fühlen muss …"
"Heute ist Sonntag, da wird ihn die Predigt für die zum Tode Verurteilten auf andere Gedanken bringen", bemerkte Mr. Highson.
"Was meinen Sie damit?"
"Nun, bei diesem Anlass predigt der Gefängnisgeistliche vor den Gefangenen, die auf ihre Hinrichtung warten, während in der Mitte der Kapelle ein Sarg steht. Es soll ihre Gedanken auf die Ewigkeit hinlenken und sie zur Reue bewegen."
"Wie schrecklich!" Katherine erschauderte. "Ach, Sir, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Wann wollen wir morgen aufbrechen? Für uns beide und meine Zofe werde ich eine Kutsche mieten, und mein Diener kann uns in meinem Wagen folgen."
"Nicht nötig. Wir nehmen meine Kutsche. Mit meinem Gespann werden wir am späten Nachmittag London erreichen, keine Sorge. Ich hole Sie morgen früh um zehn Uhr in Ihrem Gasthof ab, wenn Sie mir die Adresse geben."
Katherine verabschiedete sich herzlich. Erst als sie schon beinahe die Straße vor dem Haus erreicht hatte, sank sie hilflos auf den Rasen nieder und brach in Tränen aus. "Wir haben es geschafft! Oh, John, Jenny, er wird nicht gehängt!"
Nicholas Lydgate fuhr hoch. Er hatte versucht, auf der harten Kirchenbank zu dösen und der Bußpredigt des Geistlichen keine Aufmerksamkeit zu schenken. Schlafen konnte er hier ebenso wenig wie in seiner Zelle, aber in seinem halb wachen Zustand hatte er höchst angenehm von der Freiheit, von Katherine und von weiten Feldern geträumt. Eigentlich sollte er nicht träumen – es gab ja ohnehin keine Hoffnung mehr. Hoffen bedeutete, sich selbst zu betrügen, und das hatte er nie getan.
Wenn Katherine irgendwo ihr Glück fand, umso besser. Sie würde um ihn weinen, das wusste er. Doch außer ihr würde kein Mensch eine Träne vergießen, und in ein paar Jahren konnte ein besserer Mann als er übernehmen, was dem Geburtsrecht nach ihm zustand. Robert wird der Familie keine Schande machen. Wenn ich nur die Gewissheit hätte, dass es Katherine gut geht …
In dieser Nacht fand Katherine keinen Schlaf. Was wäre, wenn der Friedensrichter seine Meinung änderte? Was wäre, wenn man ihm in London nicht glaubte? Oder wenn die Gefängnisleitung die Hinrichtung vorverlegte?
Gegen drei Uhr morgens schlug sie die Decke zur Seite, zündete eine Kerze an und stieg aus dem Bett, um in ihrem Zimmer auf und ab zu gehen. Durch die Bewegung beruhigte sie sich ein wenig. Mr. Highson würde seine Meinung natürlich nicht ändern. Sein Wort als Ehrenmann und Richter würde zumindest ausreichen, um Nicks Hinrichtung hinauszuschieben, bis weitere Ermittlungen angestellt werden konnten. Und selbstverständlich würde man den Termin nicht vorverlegen, es handelte sich ja schließlich um ein öffentliches Schauspiel!
"Außerdem würde ich es mit Sicherheit spüren, wenn du nicht mehr lebtest", flüsterte sie. Wie sonderbar, dass sie sich einem Mann, den sie kaum kannte, so eng verbunden fühlte. Schon bei ihrer ersten Begegnung war der Funke übergesprungen, als sie noch kein Wort miteinander gewechselt hatten.
Katherine rieb sich die Arme, da ihr in der kalten Nachtluft plötzlich fröstelte. Als sie an sich hinabsah, bemerkte sie, dass sie in ihrer Eile, London zu verlassen, ihr hauchzartes Brauthemd eingepackt hatte.
Du trägst aber ein hübsches Nachtgewand, Katherine. Eine Sekunde lang meinte sie, Nicks neckende, unterschwellig begehrliche Stimme zu hören, als befände er sich bei ihr im Zimmer.
Mit einem Lächeln auf den Lippen ging sie wieder zu Bett und blies die Kerze aus.
Sie fand ihren Gatten äußerst anziehend, nicht nur äußerlich, sondern auch in seinem Wesen. Ein Ehrenmann. Abgesehen von dem leidenschaftlichen Kuss bei ihrem Abschied hatte er sie stets respektvoll und rücksichtsvoll behandelt. Katherine fuhr sich mit den Fingerspitzen sachte über die Lippen. Ihr fehlten zwar die Vergleichsmöglichkeiten, aber sie glaubte nicht, dass Nick an jenem Morgen bloß sein sinnliches Verlangen hatte stillen wollen. Nein, es schien ihr, als wollte er sie sich genau einprägen, um die Erinnerung an sie in seinem Herzen zu bewahren.
Ob der Kuss seine Erwartungen erfüllt hatte? Sie jedenfalls würde diesen Augenblick niemals vergessen. Sobald sie die Augen schloss, spürte sie wieder Nicks Duft, seinen kraftvollen Körper unter ihren Händen, seine Lippen auf ihrem Mund … Vielleicht lag er in diesem Augenblick
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