Mein Mutiger Engel
Haus.
Es war tatsächlich klein. Katherine hatte sich auf lange, mit glänzendem Mahagoni verkleidete Wände eingestellt, auf anstrengende Gespräche über hohe Tafelaufsätze hinweg. Sie atmete erleichtert auf, doch dann stellte sie bestürzt fest, dass sich außer ihr nur noch der Duke im Raum befand.
"Hallo, meine Liebe. Da du so pünktlich erscheinst, hast du den Weg wohl ohne Schwierigkeiten gefunden. Ah, da kommen meine Söhne."
Katherine sah keinen der Herren an, sondern nickte dem Lakaien zu, der ihr einen Stuhl hinrückte.
"Hat eure Reise lange gedauert?" Selbstverständlich konnte der Duke sie vor den Dienern nicht direkt fragen, woher sie gekommen waren. Er wollte ja den Anschein erwecken, als sei ihre überraschende Ankunft nichts Ungewöhnliches. Also bemühte sie sich, ihm so viel wie möglich mitzuteilen, ohne dass es auffiel.
"Mehrere Tage, Euer Gnaden. Nicholas musste sich schonen, da er sich gesundheitlich nicht wohl fühlte. In London herrschte sehr freundliches Wetter, als wir aufbrachen."
"Geht es deiner Familie gut?"
"Mein Bruder, mein einziger Angehöriger, reist zurzeit durch Frankreich, Euer Gnaden." Mit Sicherheit hatte der Duke vor dem Essen im Adelskalender über ihre Familie nachgelesen. Er musste inzwischen wissen, dass ihre Herkunft im Vergleich zu seiner eigenen höchst bescheiden war.
Während der ganzen Mahlzeit herrschte eine derart steife und förmliche Atmosphäre, dass es Katherine schon vor dem Abendessen graute. Man unterhielt sich in gemessenem Ton über allgemeine, unverfängliche Themen wie das Wetter, die Neuigkeiten aus der Gegend und Klatsch aus London. Wenn das noch lange so weitergeht, werde ich schreien, dachte Katherine.
Vorsichtig spähte sie zu Nicholas hinüber. Nach außen hin wirkte er ruhig und entspannt, aber sie ahnte, welche Unruhe ihn erfüllte. Vermutlich drängte es ihn, das bevorstehende Gespräch mit seinem Vater hinter sich zu bringen. Am Tisch zu sitzen und artige Nichtigkeiten von sich zu geben rieb ihn auf, wie die Handschellen seine Handgelenke wund gerieben hatten.
Endlich lehnte sich der Duke zurück und ließ den Blick über seine Familie schweifen. "Nicholas, mit dir möchte ich ein Wörtchen sprechen. Robert, vielleicht würde Katherine sich gerne das Haus ansehen. Führe sie doch ein wenig herum." Da es sich offensichtlich um einen Befehl handelte und nicht um einen Vorschlag, nahm Katherine höflich lächelnd an.
"Danke, Euer Gnaden. Das würde mich sehr freuen."
Alle erhoben sich. Beim Hinausgehen warf Nick ihr einen warmen, beruhigenden Blick zu. "Lass dir von Robert keine langweiligen Vorträge über die Bilder in der Langen Galerie halten, Katherine", raunte er ihr ins Ohr. Dann hauchte er einen flüchtigen Kuss auf ihre Wange und trat zur Seite, um ihr den Vortritt zu lassen.
"Nun denn", begann der Duke, sobald er und Nick in seinem Arbeitszimmer saßen. "Offensichtlich hast du deine Clarissa doch nicht geheiratet. Oder hieß sie Annabelle? Nach all den Jahren bringe ich die Namen deiner Jugendlieben leicht durcheinander." Er zog an seiner Manschette. "Vergesslichkeit – die Geißel des Alters."
"Willst du nun von mir hören, dass dein Gedächtnis kein bisschen nachgelassen hat, Vater? Es stimmt schon, ich habe mich damals in sehr viele junge Damen verliebt, da ist es nicht verwunderlich, dass du dich nicht mehr an Arabella erinnerst. Nein, die Heirat fand nicht statt. Trotz deiner abfälligen Bemerkungen über ihre Kinderstube schockierte sie mein Vorschlag, gemeinsam durchzubrennen."
"Und doch hast du mich beim Wort genommen und bist gegangen?"
"Aber ja. Ich hielt es für einen Befehl." Auf keinen Fall würde er seinem Vater erklären, wie sehr Arabellas Weigerung, alles für ihn aufzugeben, ihn verletzt hatte.
"Wie gehorsam von dir", bemerkte sein Vater skeptisch. "Ich rechnete damit, dass du nach ein, zwei Wochen wieder heimkehren würdest. Als ich hörte, dass mein Sohn und Erbe sich in London mit Kartenspielen durchschlug, war ich alles andere als erfreut. Und zwei Jahre später verschwandest du plötzlich – wieso?"
Nick zuckte die Achseln. "Aus Langeweile. Achtzehn Monate wanderte ich ziellos hin und her, dann trat ich aus einer Laune heraus in die Armee ein."
"In welches Regiment? In welchem Rang?"
"Als Gefreiter", erwiderte Nick, auf einen Wutausbruch gefasst.
"Gefreiter? Lieber Himmel!" Der Duke warf den Kopf zurück und brach in Gelächter aus. "Dann hat dich also endlich jemand Disziplin
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