Mein Mutiger Engel
wieder in dem Gasthof bei Marlowe Beck Zuflucht zu suchen. Sie fühlte sich zunehmend unruhig und ratlos, als hätte sie völlig die Kontrolle über die Situation verloren.
Laut Heron befanden sich die Herren im Chinesischen Salon, der sich am besten für Zusammenkünfte im kleinen Familienkreis eignete. Da Katherine sich nur zu gut an die verwirrende Fülle von Gemächern erinnerte, durch die Robert sie am Nachmittag geführt hatte, war sie für diese Mitteilung dankbar. Hocherhobenen Hauptes begab sie sich in den Salon. Wenn sie den Mut besaß, einen Wegelagerer in seinem Versteck aufzusuchen, konnte sie auch einem Duke in seinem Schloss entgegentreten.
Die Herren neigten sich gerade über einen Tisch, auf dem eine große Landkarte ausgebreitet lag. Als Katherine eintrat und knickste, hoben alle drei den Kopf. Nick warf ihr ein herzliches Lächeln zu, das sie erleichtert erwiderte, bevor der Duke sie zu sich heranwinkte.
"Diese Karte hat Mr. Crace, unser Archivar, vor kurzem im Dokumentenzimmer entdeckt. Leider kann er heute nicht mit uns zu Abend essen, da er und Reverend Rossington, unser Vikar, in die Bischofsresidenz eingeladen wurden."
Eine Sekunde lang stockte Katherine der Atem, doch dann riss sie sich zusammen. Selbstverständlich beschäftigte ein Duke einen Archivar und einen Vikar, und selbstverständlich pflegten diese Herren mit der Familie zu speisen. Gab es denn in diesem gewaltigen Palast überhaupt keine Privatsphäre?
In diesem Augenblick deutete Nick, der sich schon wieder mit der Karte beschäftigte, auf eine Stelle am Rand des Parks. "Wohnt Cousine Wilhelmina noch im Witwenhaus, Vater?"
"Nein, sie ist vor drei Jahren verstorben", antwortete der Duke. "Zurzeit steht es leer. Warum? Hast du etwa Verwendung dafür?"
Nick zuckte die Achseln. "Möglicherweise. Ich möchte meinen eigenen Haushalt gründen."
"Du kannst hier über den gesamten Ostflügel verfügen. Wozu willst du ausziehen?"
"Bei allem Respekt, Vater, ich glaube, wir würden uns besser vertragen, wenn wir nicht zu dicht beieinander wohnten. Außerdem hat meine Gattin erst gestern gesagt, dass sie ein kleineres Heim vorziehen würde. Ein anheimelndes, gemütliches Heim, wenn ich mich recht entsinne."
"Nicholas!", entfuhr es Katherine. "Verzeihung, Euer Gnaden. Ich habe mich keineswegs abfällig über Ihr Anwesen geäußert. Als ich das sagte, wusste ich noch nichts über Nicks Herkunft."
"Ach, das hat er dir verschwiegen?" Ihre Verlegenheit entlockte dem Duke ein schmallippiges Lächeln. "Übrigens wird es einige Zeit in Anspruch nehmen, das Witwenhaus wieder herzurichten. Bis dahin wird eure Ehe längst aufgelöst sein, nicht wahr?"
"Ja, natür…"
"Nein", schnitt Nick ihr energisch das Wort ab. "Nein, das steht keineswegs fest."
14. Kapitel
Kaum hatte Nick gesprochen, da bereute er seine Worte schon. Nicht die Aussage an sich, sondern seinen Ton, denn Katherine sah ihn nur müde an, ohne jedes Anzeichen von Trotz oder Zorn.
In diesem Augenblick meldete Heron, das Dinner werde serviert. Als der Duke Katherine seinen Arm bot, fragte sich Nick, ob er sich den Ausdruck in ihren Augen vielleicht nur eingebildet hatte. Denn nun blickte sie heiter und aufmerksam zu seinem Vater empor und stellte ihm irgendeine kluge Frage über die chinesische Tapete, mit der sowohl der Salon als auch das daneben gelegene Speisezimmer bezogen war.
Von seinem Platz am Fußende des Tischs aus fiel es Nick schwer, Katherines Miene genau zu studieren, da er sie nur von der Seite sah. Sie saß zur Rechten des Dukes, während Robert ihr gegenüber Platz genommen hatte.
Nun, Katherines bezauberndes Profil konnte einen Mann durchaus für die Dauer einer Mahlzeit beschäftigen. Ihre sittsam niedergeschlagenen Wimpern, das im Gegensatz dazu entschlossene Kinn, die gerade Nase … Wenn sie lächelte, wie beispielsweise jetzt, da Robert ihr zutrank, bildeten sich Grübchen auf ihren Wangen.
Während ihrer langen, gemeinsamen Reise hatte Nick ihre Stimmung stets an ihrem Gesicht ablesen können, aber jetzt verbarg sie ihre Gefühle hinter förmlichen, konventionellen Umgangsformen. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich zu gleichen Teilen auf seinen Vater und seinen Bruder. Schließlich gelang es Nick, eine Frage einzuwerfen.
"Kannst du reiten, Katherine?"
Lächelnd, doch mit ernstem Blick antwortete sie: "Nein. In London war es schwierig genug, eine Kutsche und ein Gespann zu unterhalten. Reitpferde konnten wir uns nicht leisten."
"Soll ich es dir
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