Mein mutiges Herz
eigenen Leben interessiert als an dem ihrer Tochter.
„Mir gefällt mein Leben“, sagte Lindsey sinnend. „Ich möchte gerne das tun, wonach mir der Sinn steht, ohne einen Ehemann an der Seite, der mir ständig Vorschriften macht.“
„So soll es auch sein, meine Liebe. Eine Frau muss zwar etwas vorsichtiger und kritischer sein im Umgang, den sie pflegt, aber wenn sie klug und pfiffig ist, findet sie reichlich Gelegenheit, ihr Leben zu genießen.“
Lindsey konnte sich vorstellen, dass Tante Dee diesen Rat selbst befolgte, und bewunderte sie dafür. Es erforderte einigen Mut für eine Frau, so zu leben, wie es ihr gefiel.
In Gedanken an den verflossenen Abend lehnte Lindsey sich zurück. „Ich frage mich, ob Rudy schon zu Hause ist.“ Ihr Bruder war ein paar Stunden auf dem Ball gewesen, hatte sich aber vorzeitig mit seinen Freunden verabschiedet.
„Das glaube ich kaum. Dein Bruder pflegt sich doch die Nächte um die Ohren zu schlagen. Ich wette, er taucht erst gegen Mittag auf.“
Lindsey setzte sich aufrecht hin. „Na und? Ihn sticht lediglich der Hafer“, verteidigte sie ihn. „Alle jungen Männer gehen durch diese Phase der Entwicklung.“ Rudy war zwar nur ein Jahr jünger als Lindsey, aber immer noch das verhätschelte Kind in der Familie. Und als Erbe des Titels konnte er sich alle Freiheiten erlauben.
„Dein Bruder ist ein ausgesprochen leichtlebiger Nichtsnutz. Er trinkt zu viel und umgibt sich mit unmöglichen Freunden. Dein Vater hätte ihn schon vor Jahren zur Räson bringen sollen. Nun ist der Junge erwachsen und wird sich nicht mehr ändern.“
„Aber er ist doch noch jung“, hielt Lindsey ihr entgegen. „Er wird bald vernünftig werden.“ Das hoffte sie jedenfalls. Schon als Kind durfte Rudy sich alles erlauben, und daran hatte sich nichts geändert. Er stand im Ruf, ein Trunkenbold und Frauenheld zu sein, und Lindsey war sich nicht wirklich sicher, ob er sich je ändern würde.
Tante Dee leerte ihr Glas. „Nun, mein Kind. Ich denke, es ist Zeit, zu Bett zu gehen.“
Erleichtert atmete Lindsey auf und erhob sich. „Ja, auch ich bin müde. Gute Nacht, Tante Dee. Wir sehen uns beim Frühstück.“
Während sie erschöpft die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinaufging, dachte sie an Rudy und fragte sich, ob ihre Tante in ihrer Meinung über ihn recht behalten würde.
2. KAPITEL
Rudy kam am nächsten Morgen gegen zehn nach Hause. Lindsey, die gerade ihr Frühstück beendet hatte, hörte Lärm in der Halle und sprang auf, um nachzusehen, wer gekommen war.
Ihr Bruder wankte mit einem einfältigen Lächeln auf sie zu und lüftete den hohen Zylinderhut, der seinen Fingern entglitt und über die Marmorfliesen rollte. „Morgen, Schwesterherz.“
Der Butler, der aus einer Seitentür erschienen war, gab vor, den trunkenen Zustand des jungen Herrn nicht zu bemerken, bückte sich nach dem Hut, wischte mit dem Ärmel über die Krempe und legte ihn auf den Garderobentisch.
Lindsey eilte ihrem Bruder entgegen. „Gütiger Himmel, Rudy, du bist ja völlig betrunken!“
Er kicherte kindisch, ein hochgewachsener, schlaksiger junger Mann mit sandfarbenem Haar und Sommersprossen. „Tatsächlich?“ Er taumelte gegen die Wand, fasste sich und fiel erneut dagegen.
„Benders, helfen Sie mir, meinen Bruder in sein Zimmer zu bringen.“
„Selbstverständlich, Miss.“
Der betagte Diener eilte herbei, aber Rudy winkte ab. „Nicht nötig, brauche keine Hilfe. Ich nehme nur ein Bad, wechsle die Kleider und bin gleich wieder weg. Treffe mich mit Tom Boggs und den anderen im Club.“
Aufgebracht baute Lindsey sich vor ihm auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Bist du verrückt? In diesem Zustand kannst du dich unmöglich bei White’s sehen lassen. Du blamierst dich bis auf die Knochen.“
Rudy runzelte die Stirn. „Ist es wirklich so schlimm?“
„Noch schlimmer. Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten.“
Gleichmütig zuckte er die Achseln. Sein Gehrock war zerknittert und beschmutzt. „Vielleicht lege ich mich ein Weilchen hin und mache ein Nickerchen. In meinem Kopf dreht sich alles.“
„Ja, das kann ich mir denken.“ Lindsey trat neben ihn, legte sich seinen Arm um die Schultern, und Benders nahm ihn auf der anderen Seite unter die Fittiche. Gemeinsam schleppten sie Rudy die Treppe hinauf, wobei dessen Füße gegen jede zweite Stufe stießen. Als sie den Trunkenbold endlich wie einen Sack Kartoffeln auf das breite Baldachinbett legten, war der alte Benders außer
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