Mein Name ist Afra (German Edition)
Wasser vom Bächlein direkt ins Haus geleitet. Wenn ihr euch draußen aufmerksam umschaut, dann werdet ihr noch Reste dieser Wasserversorgung finden, da liegen noch genügend uralte Baumstämme herum, die von den Menschen dazu bearbeitet wurden. In Roselle, einer Stadt in Tuscia, aus der meine Mutter stammt, hatten alle Häuser, nicht nur die der Reichen, dieses fließende Wasser, obwohl die Gebäude hoch droben auf einem Berg lagen, wie der Horst eines Adlers, und man konnte weit, sehr weit übers Land schauen, bis hinunter zum glitzernden Meer.“
Die Mädchen hörten gespannt zu, und als Justina das Meer erwähnte, bekam sogar Richlint glänzende Augen und richtete sich, im Wasser plätschernd, in der Wanne auf. „Bitte, Justina, erzähl´ uns von deiner Mutter und dem Land, aus dem sie kam! Und vom Meer, erzähl´ uns alles, was du weißt über das Meer!“
Justina legte die Kleider, die sie reinigte, zur Seite auf die Bank und ließ die nassen Hände in den Schoß sinken. Sie hob den Kopf mit den schwarzen Locken, und ihre dunklen, samtigen Augen blickten weit über die badenden Kinder hinweg auf etwas, das nur sie sehen konnten; etwas, das sehr traurig und sehr schön zugleich schien, und mit leicht bebender Stimme begann sie zu erzählen.
„Ich selber habe das Meer nie wirklich gesehen, nicht in diesem Leben, und doch kann ich, wenn ich meine Augen schließe, das Glitzern der Sonne auf dem unendlichen Ozean erkennen, die Farben des Himmels geben dem Wasser sein Licht, es ist von tiefstem Blau und hellstem Grün und schmutzigstem Grau, es wechselt seine vielen Tönungen so schnell wie die Wolken am Himmel vorüberziehen, und seine Schwärze in der Nacht, wenn die Sterne und der Mond sich verstecken, ist die tiefe Düsternis der Unterwelt und der schwarze See des Todes. Ich kann die riesigen Wellen hören, wenn ich meine Ohren weit öffne, klatschend und laut, wenn sie im Hafen mit Macht an die steinerne Brüstung des Beckens schlagen, leise und sanft rauschend, wenn sie über den weichen Sand ans flache Ufer rollen und mit saugender Beharrlichkeit versuchen, meinen Füßen den festen Grund zu nehmen und mich mit sich hinaus in die unendliche Tiefe zu ziehen. Ich kann den würzigen Geruch nach Salz und nassem Holz, nach Fischen und dunkelgrünem Seetang riechen, wenn ich tief die Luft durch meine Nüstern ziehe, und von diesem berauschenden Duft dreht sich mein Kopf wie im Schwindel, und ich sehne mich danach, auf den schwankenden Planken eines Schiffes zu stehen und das heitere Spiel der Delphine in den Wellen zu beobachten.“
Justina schwieg für einen Augenblick und betrachtete nachdenklich ihre Hände. „Schaut´ euch die schönen Malereien in diesem Baderaum an, hier an den Wänden und an der Decke, da seht ihr bunte Fische, die miteinander spielen und scheinbar schwerelos durch das Wasser tauchen, grauenvolle Ungeheuer mit riesigem Maul und spitzen Zähnen und seltsame Fabelwesen mit Flügeln und Schweif sitzen in der Tiefe und warten auf die Körper und Seelen der ertrunkenen Menschen. Das Volk, aus dem meine Mutter stammt, war ein altes Volk von tüchtigen Seefahrern, über viele hundert Jahre waren sie auf allen Meeren dieser Welt daheim, ihre schönen Boote waren die schnellsten und wendigsten Schiffe ihrer Zeit, und sie fürchteten sich nicht wie so viele andere Völker vor den Tücken und Untiefen der Ozeane. Als sie sich niederließen, geschah das in der Nähe des Wassers, und sie bauten Hafen für ihre Schiffe am Ufer und Städte für ihre Menschen hoch oben auf Bergen und Hügeln, damit sie von dort jeden Tag das Meer sehen konnten. Meine Mutter lebte dort droben in Roselle, der alten tuscischen Stadt, die die römischen Eroberer von ihrem Volk übernommen hatten, und obwohl sie nur die Sklavin einer reichen Familie war, sah sie doch jeden Tag von weitem das Meer und war zufrieden. Im Sommer, wenn die Hitze auf dem Berg trotz der kühlen Häuser mit ihren dicken Steinmauern für Mensch und Tier unerträglich wurde, zog die ganze Familie in ihr Landgut, das nahe am Meer in einem schattigen Hain von uralten Bäumen lag, und verbrachte dort die heißen Monate. Meine Mutter hat mir von sternklaren Sommernächten erzählt, mit ihrer warmen, lauen Luft und dem reichen Duft der Pflanzen und Gewürze, die dort so üppig wuchsen, und von den geheimnisvollen Lauten der wilden Tiere in dunkler Nacht, die manchen Menschen nicht schlafen ließen. Sie hat mir soviel erzählt von diesem sonnigen,
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