Mein Name ist Afra (German Edition)
stand und nicht recht wußte, was sie sagen oder tun sollte.
„Und du, Afra, du hast ja wahrlich keinen Grund, aus Pitengouua wegzulaufen! Es ist schön von dir, wenn du Richlint nicht allein lassen willst, aber dieser Gedanke von euch mit dem Fortlaufen taugt leider nicht allzuviel. Die Berge sind hoch, voller Eis und Schnee, an den Wegen und in den Wäldern lauern wilde Tiere und gefährliche Räuberbanden und grobschlächtige Männer, die ihr Gold mit dem Einfangen entlaufener Leibeigener verdienen. Und falls ihr es doch über die Berge schafft und im Süden seid, was wollt ihr dort anfangen, von was wollt ihr euch ernähren, wo wollt ihr schlafen? Ihr sprecht nicht einmal die verschiedenen Sprachen des Landes, ihr seid nur zwei kleine, unschuldige Mädchen ohne den Schutz einer Familie; irgend ein Mann wird euch einfangen, mit seinen bloßen Händen, und er wird euch Gewalt antun und dann töten oder als Sklaven verkaufen! Ein sehr dummer Gedanke ist das mit dem Weglaufen!“
Durch die aufgebrachte Stimme seiner Herrin aufgeschreckt, war der große, weiße Hund in den Baderaum gelaufen, und die verlegene Afra, die nicht wußte, was sie Justina antworten sollte, begann ihn zu streicheln und zu kraulen und schaute nicht auf.
„Nein, nein,“ fuhr Justina fort, „wegzulaufen ist nichts für euch, und eure Familien würdet ihr damit zu Tode ängstigen. Ihr beide, Richlint und Afra, ihr seid in Pitengouua geboren, und dort wird sich euer Schicksal auch erfüllen. Dem eigenen Schicksal kann niemand davon laufen, denn wo ihr auch hingeht, euch selbst nehmt ihr immer mit, die Vergangenheit im Dorf, eure Ängste und Sorgen, euren Glauben und eure Zweifel. Die könnt ihr nicht einfach ablegen wie einen Mantel oder ein Kleid, wie etwas Altes, das man nicht mehr braucht und loshaben will! Du, Afra, wirst an deine Eltern denken und an Walburc, deine Schwester, und du wirst jeden Tag weinen vor Sehnsucht nach Pitengouua und seinen Flüssen und Seen, Wäldern und Hügeln. Die Menschen der Heimat und die vertraute Sprache deiner Kindheit werden dir fehlen, und du wirst dich fragen, warum du gegangen bist, und du wirst Richlint dafür hassen, daß sie dich dazu gedrängt hat!“
Eindringlich und fest hatte Justina zu Afra gesprochen, aber als sie sich jetzt an Richlint wandte, die immer noch auf dem kalten Steinboden kauerte, wurde ihre Stimme leise und mild, und sie stand auf und strich dem kleinen Mädchen besänftigend über die Haare. „ Richlint, ich weiß, daß diese Zeit nicht leicht für dich ist, aber glaube mir, das Weglaufen ändert gar nichts in deinem Leben! Du hast Schweres hinter dir und noch viel Schwereres vor dir liegen, das spüre ich genau, aber deinem Schicksal kannst du durch Fortlaufen nicht entkommen. Du bist ein starkes Mädchen mit eigenem Willen und großen Träumen, du fügst dich nicht einfach in das Dasein einer Leibeigenen, die ihre tägliche Arbeit tut und ihren Herren gehorcht und weiter nach nichts fragt, du willst mehr! Aber warte noch ein wenig, jetzt bist du nur ein Kind und kannst nichts erreichen aus eigener Kraft. Laß´ dir Zeit, bis du eine erwachsene Frau bist, in Pitengouua kann sich in wenigen Jahren viel verändern, und es werden Tage kommen, an denen du dich über dein Leben freust und glücklich bist!“
Afra, die neben Cimbro auf dem Boden hockte, schaute auf und fragte mit nachdenklichem Gesicht. „Und du, Justina, bist du denn glücklich hier draußen im Weinland? Du hast keinen Mann und keine Kinder, niemand sorgt sich um dich, wenn dir etwas fehlt, und die anderen Leute fürchten sich manchmal vor dir und meiden deine Nähe! Immer allein zu sein, das stell´ ich mir schrecklich vor! Warum bist du nicht längst in die Heimat deiner Mutter zurückgegangen, dein Herr wird wohl nicht wiederkommen, und die Pitengouuer würde es nicht kümmern, wohin du gehst!“
Justina lächelte und schwieg. Die beiden Mädchen sahen sie erwartungsvoll an, und schließlich begann die junge Frau mit sehr leiser Stimme zu reden. „Ich bin zufrieden hier, in manchen Augenblicken sogar glücklich, auch wenn ihr zwei euch das nicht vorstellen könnt, weil ihr glaubt, zum Glück gehöre ein Mann und Kinder, ein eigenes Haus mit Grund und Boden und Reichtum und Ansehen im Dorf! Das finde ich nicht, und ich habe mir mein Leben gerade so ausgesucht, wie es jetzt ist. Ich bin nicht allein, denn ich habe meine Tiere, mit ihnen spreche ich und sie geben mir Antwort, sie sind mir soviel wert wie
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