Mein Name ist Afra (German Edition)
sicher Durst und Hunger nach der langen Nacht, und vielleicht kannst du ein wenig aufsitzen, wenn ich dich gewaschen und dir ein frisches Hemd gebracht habe.“
Geduldig und liebevoll war Richlint um die alte Frau bemüht, wusch ihr sanft den Schlaf aus den Augen, kämmte das schüttere, weiße Haar und flocht es sorgsam zu einem dünnen, langen Zopf, der beim Liegen nirgends drückte. Dann brachte sie Hedwig mit Wasser verdünnten Wein zum Trinken, der sollte die Kranke stärken, und sie wärmte über der glimmenden Feuerstätte etwas dünnflüssigen Getreidebrei vom Vorabend, denn die Greisin hatte keinen einzigen gesunden Zahn mehr in ihrem Mund und konnte die Nahrung nicht beißen.
„Ich werde Trudhild rufen, sie soll mir helfen, dich nach draußen unter den Schopf zu setzen, ein wenig frische Novemberluft wird dir sicher gut tun, hier drinnen kannst du ja kaum atmen.“ Die abwehrende Handbewegung von Hedwig, die niemand zusätzliche Arbeit machen wollte, wies Richlint entschieden zurück. „Denk´ nur daran, wie krank sogar ich als Junge und Gesunde im letzten Winter von der dicken und rauchigen Luft in der Stube geworden bin, wochenlang mußte ich im Bettkasten liegen und bekam keine Luft mehr, die ganze Brust hat geschmerzt und das Fieber wollte nicht vergehen! Keine Widerrede, wir tragen dich für kurze Zeit nach draußen, schwer bist du ja wirklich nicht, und das ist kein Wunder bei dem wenigen Essen, das du verlangst.“
Nachdem Richlint mit Hilfe der Magd den hochlehnigen Stuhl des Hofherrn unter das umlaufende Dach getragen und die alte Frau, warm eingepackt in wollene Webdecken und Filztücher, sicher darauf gesetzt hatte, hockte sie sich auf die Holzstufen daneben, wickelte sich gegen die Kälte der Novemberluft fest in ihren auffälligen, leuchtend rot gefärbten Umhang aus Schafwolle und streichelte die schwarze Hündin, die ihr wie immer auf Schritt und Tritt gefolgt war und jetzt entspannt neben den beiden Frauen lag.
Richlint konnte die Mutter ihres Mannes gut leiden, denn Hedwig hatte sie vom ersten Tag an mit offenen Armen aufgenommen, froh über eine junge und gesunde Schwiegertochter, der sie die Frauenarbeit auf dem Hof übergeben konnte und die ihr viele Enkelkinder gebären würde. Die alte Frau sprach nicht viel und war gerne allein, genau wie Richlint, aber sie war freundlich und voller Verständnis für die Sohnesfrau, die ja trotz ihrer vornehmen Abstammung als unfreie Magd aufgewachsen war und nicht gelernt hatte, einen großen Hof und Haushalt zu leiten. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte Richlint zwar auf dem Meierhof gelebt und dort zusammen mit Walburc und Afra gearbeitet, aber es waren nach dem Überfall der Ungarn karge Jahre gewesen, in denen es nur ums Überleben ging und jeder überall mit anpackte, die Zeit für eine ausführliche Unterweisung der beiden Mädchen in Haushaltsführung hatte Walburc nicht gehabt. Und so konnte Richlint zwar die Tiere versorgen und melken, die Gärten pflegen und Vorräte anlegen, auch das Weben und Spinnen war ihr ein wenig vertraut, aber noch nie vorher hatte sie die Arbeit für die Knechte und Mägde eingeteilt oder wichtige Entscheidungen getroffen. Dazu kam, daß jeder Hof und jedes Dorf seine eigene Art hatte, Fleisch zu pökeln und Wolle zu färben oder auch nur Getreidebrei zu kochen, und was auf dem Meierhof richtig war, mußte deshalb noch lange nicht das Richtige für die Haslacher sein.
Hedwig, die in den ersten beiden Jahren von Richlint´s Ehe schon kränklich, aber nicht bettlägerig war, lehrte die junge Frau geduldig alles über den Haslachhof und seine Gewohnheiten. Sie ging mit ihr in jeden Vorratsschuppen und stieg in jeden feuchtkühlen Grubenkeller mit seinen Webstühlen hinab, sie zeigte ihr die Felder, die zum Anwesen gehörten und führte sie durch die Gemüsegärten, sie wies ihr in der nahen Umgebung die besten Plätze für Beeren und Pilze und legte Richlint den Grund für den ständig steigenden Reichtum der Sippe seit zwei Generationen dar, den Kohlenabbau am Weitenschoren. Dort am Berg hatte Sigiboto als junger Mann auf dem Land seines Vaters ein in der Mittagssonne glänzendes, offen aus der Erde tretendes Pechkohleflöz entdeckt, und seitdem schlugen die Knechte der Haslacher mit eisernen Hacken und Beilen tiefschwarze Klumpen aus dem Hügel und verschifften sie auf breiten Holzflößen auf der Lecha bis nach Augusburc, um die Kohle dort gegen harte Goldmünzen zu verkaufen. Das alles war reine Männerarbeit,
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