Mein Name war Judas
unten tobe eine Schlacht, bei der wir die Römer vernichtend schlugen. Ganz überraschend marschierten sie in unserer Fantasie in Nazareth ein, eine ganze Legion. Ihre Rüstungen und Helme funkelten in der Sonne, während ihre Trommeln und ihre Marschschritte von den Hügeln widerhallten. Unsere Einheiten lagen im Hinterhalt, an den Hängen beidseits des Tals, um im rechten Moment loszustürmen, die Römer einzukesseln und sich in eine Schlacht zu stürzen, bei der Mann gegen Mann kämpfte, bis die Römer geschlagen waren. Wenn alles vorbei war, würden wir die Verwundeten durch das Schwert erlösen. Den wenigen Überlebenden, die nicht verwundet waren, würden wir Waffen und Rüstung abnehmen, ja sogar die Kleidung, und sie als Sklaven für uns arbeiten lassen.
Als kleine Jungen war unser Verhältnis zu den römischen Soldaten, denen wir auf der Straße begegneten, ambivalent. Zwar waren sie überall präsent, aber in unserer Region waren sie zu jener Zeit nicht aufdringlich. Nachdem Herodes, der König von Palästina, gestorben war, hatten die Römer das Land in vier Provinzen aufgeteilt, jede mit einem eigenen Befehlshaber. In unserem Landesteil, Galiläa, hatte Herodes’ Sohn das Sagen, Herodes Antipas. Als Kind hörte ich niemanden ein gutes Wort über die beiden Herodes sagen, nicht einmal meinen Vater, der einräumte, dass die neuen Städte, die sie erbaut hatten, sehr ansehnlich, zeitgemäß und eines stolzen Volkes würdig seien. Auch Einladungen zu Festen im Palast des neuen Provinzfürsten in Tiberias nahm er an. Doch diese sogenannten Könige der Juden waren Marionetten der Römer und wurden nicht wirklich respektiert.
Vor den Toren Nazareths, an der Straße nach Tiberias, befand sich ein römisches Basislager, und manchmal rasteten dort Legionen auf dem Weg von oder nach Jerusalem. Meist aber war dort nur eine kleine Schutztruppe untergebracht. Bei größeren Truppenbewegungen lungerten Jesus und ich oft an den Toren des Lagers herum. Manchmal scheuchten die Soldaten uns fort, manchmal ignorierten sie uns, und manchmal gaben sie uns kleine Geschenke – Süßigkeiten oder ein Stück Kuchen und einmal sogar jedem von uns eine Münze. Es kam auch vor, dass sie mit uns sprachen. Dann fragten sie nach unseren Namen und was dieses oder jenes auf Aramäisch heiße. Soldaten, die schon lange in unserer Gegend stationiert waren, hatten oft schlechte Laune und verachteten uns Einheimische. Für sie waren wir undankbarer, ungewaschener Pöbel und potenzielle Rebellen. Die Neuankömmlinge, vor allem die jüngeren, waren freundlicher.
Unsere Eltern und auch Andreas sagten uns immer wieder, dass wir ihnen aus dem Weg gehen und uns von ihrem Lager fernhalten sollten, aber das war eine der Regeln, die für uns Kinder nur dazu dienten, gebrochen zu werden.
Manchmal wurden die Einwohner von Nazareth aufgefordert, Soldaten bei sich einzuquartieren, einen oder mehrere, je nach Größe ihrer Häuser, und niemand wagte es, sich dieser Aufforderung zu widersetzen. So waren auch bei uns einmal zwei Soldaten einquartiert. Sie waren nett und höflich und wussten den Komfort zu schätzen, den sie bei uns vorfanden. Ich glaube, meine Mutter hat sich in einen von ihnen verliebt (ein Offizier natürlich), aber sie versuchte es geheim zu halten. Ich mochte den Mann, bis ich eines Tages sah, wie er einen Bauern schlug, der auf der Straße vor dem Lager sein Missfallen erregt hatte.
Als Jesus und ich größer wurden und begriffen, dass wir, obwohl wir Juden waren, nach Gesetzen leben mussten, die weit entfernt in Rom gemacht wurden, von Leuten, die einem anderen Volk und einem anderen Glauben angehörten, empörten wir uns über unseren minderwertigen Status, zumal wir zu dem Zeitpunkt bereits durchschauten, worauf sich die Macht der Römer gründete: unmenschliche Grausamkeit. Wir fürchteten die Römer und mieden jeglichen Kontakt mit ihnen, weil wir uns nicht durch erzwungene Respektsbezeugungen erniedrigen wollten.
Jesu Vater, Josef, war ein fleißiger Mann, der sich aus öffentlichen Angelegenheiten heraushielt. Nie hätte er sich zu Äußerungen über die Römer hinreißen lassen. Dennoch war ich mir sicher, dass er sie ablehnte, ja sogar hasste. Ich wusste, dass er das Römerlager mit erbaut hatte, nicht gegen Bezahlung (die gab es nämlich nicht) und auch nicht, um die Gunst der Römer zu gewinnen, sondern weil man ihm keine Wahl gelassen hatte. Es hatte ihn viel Zeit und Geld gekostet, wie Jesus mir erzählte. Aber als
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