Mein Name war Judas
ich darauf erwiderte, sein Vater müsse die Römer hassen, machte er ein trotziges Gesicht und schwieg.
Mein Vater war da ganz anders. Die Römer, so erklärte er mir immer wieder, hätten Ordnung in unser Land gebracht. Mit ihnen habe die Zivilisation bei uns Einzug gehalten, Bildung, Wohlstand und sogar Moral. Vor allem aber hätten sie die Wirtschaft in Schwung gebracht und den Handel vorangetrieben. Sie hätten die Seewege von Piraten befreit und die Landstraßen von Wegelagerern – ein Unterfangen, das steter Wachsamkeit bedürfe. »Eine Herrschaft, die den Bürgern sichere Straßen garantiert, ist eine gute Herrschaft«, pflegte er einen berühmten Mann zu zitieren (wahrscheinlich einen Römer). Ohne die Römer, so versicherte er mir, wäre unsere Region von der Welt abgeschnitten, und er selbst hätte kein so erfolgreicher Kaufmann werden können. »Gerade jetzt ist eine Karawane mit meinen Waren unterwegs«, sagte er einmal zu mir und war so erregt, dass ich annahm, es müsse sich um ein äußerst riskantes Unternehmen handeln. »Nach Amman. Glaubst du, ich könnte nachts ein Auge zumachen oder darauf bauen, dass meine Investition sich auszahlt, wenn römische Legionen nicht für sichere Straßen sorgten?«
Der eine oder andere Römer mochte wohl ungehobelt, arrogant und gewalttätig sein, das räumte er ein. Doch alles in allem verlangte er, dass ich sie achtete, weil sie Respekt verdienten. »Dass du kein stinkender Bauernbursche bist, hast du nur ihnen zu verdanken«, sagte er.
Ich jedoch sah keinen Grund für Dankbarkeit. Ich wusste, dass sie das Volk Israel und seinen Gott nicht respektierten. Andreas hatte einmal gesagt, dass reiche Juden unter der römischen Herrschaft immer reicher würden und arme immer ärmer. Davon erwähnte ich zu Hause aber nichts, weil ich fürchtete, mein Vater würde mich aus dem Unterricht nehmen, wenn er den Eindruck hätte, dass man mich dort an das heranführte, was er »Politik« nannte.
Ein Erlebnis meiner Kindheit prägte mein Verhältnis zu den Römern stärker als alle anderen. Es bestätigte meine Vorurteile, könnte man sagen, und daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Wir waren von klein auf daran gewöhnt, dass die Römer Kriminelle aus den niederen sozialen Schichten hinrichteten, indem sie sie kreuzigten. Es war eins dieser Dinge, die man als Kind nicht hinterfragt, vor allem, wenn die Erwachsenen einem zu verstehen geben, dass man darüber besser nicht spricht. Dennoch musste ich hin und wieder darüber nachdenken. Aber Kreuzigungen sind so grausam, dass ich diese Gedanken schnell wieder verscheuchte.
Jesus und ich waren wohl sieben oder acht, als wir von der Festnahme einer Bande von Wegelagerern hörten, die Reisenden vor Nazareth aufgelauert und sie ausgeraubt hatten. Einige Räuber waren im Zuge der Festnahme getötet, zwei andere gefangengenommen und zum Tode verurteilt worden. Auf einem brachliegenden Acker zwischen dem Römerlager und dem Fluss sollten sie gekreuzigt werden. Der Ort war mit Bedacht gewählt, weil er von der Hauptstraße aus gut zu sehen war und alle Einwohner das Spektakel mitbekommen sollten. Es sollte eine Warnung an alle Räuber und Diebe sein und zugleich ein Signal an die Nazarener und alle Reisenden, dass Recht und Gesetz sich durchsetzten.
Als wir nach der bevorstehenden Kreuzigung fragten, bekamen wir nur knappe Antworten. Jesu Vater war sichtlich erregt, aber er weigerte sich, mehr dazu zu sagen, als dass wir dem Ereignis fernbleiben sollten. Meine Mutter verlangte dasselbe von mir. Es seien böse Männer, die vermutlich ihre gerechte Strafe bekämen. Jedenfalls sollten wir auf keinen Fall im Laufe der nächsten vier, fünf Tage in die Nähe der Kreuzigungsstätte gehen.
Unweit des brachliegenden Ackers stand eine verfallene Hütte, und Jesus sagte, er wisse, wie wir dahin gelangen könnten, ohne gesehen zu werden. Zuerst müssten wir durch das Flussbett waten, das um diese Jahreszeit fast ausgetrocknet war, dann durch ein Gebüsch kriechen, das niemandem gehörte. Er sagte, wir sollten am nächsten Tag gleich nach dem Unterricht hingehen, uns in der Hütte verstecken und abwarten, was passieren würde.
Als wir ankamen, war der erste Räuber bereits ans Kreuz geschlagen worden und wand sich vor Schmerzen. Der zweite versuchte noch zu entkommen und wehrte sich, aber römische Soldaten hielten ihn fest, boxten und traten ihn, während andere die Nägel durch seine Hände und Füße trieben. Der bereits
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