Mein Name war Judas
dass ich mehr Zeit mit Thaddäus verbringen sollte, und als das nicht fruchtete, sagte sie, ich solle Jesus doch mal zu uns nach Hause einladen, damit sie ihn näher kennenlernen könne. Als er dann kam, hat er sie natürlich voll und ganz für sich eingenommen. Sie sagte zwar, er sei ein bisschen »verlottert«, aber sonst fand sie ihn ganz reizend, »von Natur aus liebenswürdig«.
Nach seinem ersten Besuch stand ihm unser Haus immer offen, und wenn er zu uns kam, blieb er oft über Nacht. In heißen Nächten, wenn die Luft nach Jasmin duftete, schliefen wir im Garten, in dem kleinen roten Zelt, das mein Vater mir geschenkt hatte. Wir stellten es zwischen einer Zypresse und dem Springbrunnen auf, sodass wir mit dem Geräusch von plätscherndem Wasser einschliefen. Jesus sagte, in heißen Nächten begebe sich seine ganze Familie mit Matten und Schlafsachen auf das Flachdach, genau wie die Leute aus den Nachbarhäusern, sodass man es in der ganzen Straße schnarchen und flüstern hören könne, und manche Leute unterhielten sich sogar von Dach zu Dach. Ich hätte das gern einmal erlebt, aber ich wusste, dass meine Mutter es niemals erlauben würde. Ich glaube, auch Jesus wusste, dass sich der reiche kleine Junge nicht mit dem Pöbel gemeinmachen durfte, und so lud er mich gar nicht erst zum Übernachten ein.
Unser Haushalt unterschied sich von seinem in jeder Hinsicht. Wir wohnten in einer großen Villa im römischen Stil. Hinter dem Haus befand sich der ummauerte Garten mit dem Springbrunnen, vor dem Haus lag eine erhöhte Terrasse mit rot-schwarzem Mosaikboden. Zu einer Seite blickte man auf Weinberge, Olivenhaine und Gemüsefelder, zur anderen auf das Tal mit dem Dorf. Wenn wir in dem Zelt übernachtet hatten, frühstückten wir auf dieser Terrasse und blickten ins Tal, wo sich die Frauen mit ihren Wasserkrügen und Schöpfkellen wie bunt gefiederte Vögel um den Brunnen am Marktplatz scharten, während die Männer mit Rebmessern und Hacken in die Weinberge, Haine und Felder zogen, um ihr Tagwerk zu beginnen.
Zum Frühstück gab es immer das Gleiche – einen Eintopf aus Linsen und Bohnen, mit Olivenöl beträufeltes Brot und zum Abschluss Käse und Obst. Das Essen bei uns war besser als bei Jesus zu Hause. Er wusste es zu schätzen und war dankbar dafür. Im Gegensatz zu seinem Cousin Johannes war er ein guter Esser, auch später noch, trank gern Wein und hielt nicht viel vom Fasten. Nahrungsmittel seien zum Essen da, sagte er immer, und es sei nur ein kleiner Schritt von der Selbstverleugnung zur Verschwendung.
Meine Mutter hat immer bedauert, dass ich ein Einzelkind war. Manchmal weinte sie, weil sie nicht mehr Kinder hatte und auch keine mehr bekommen würde. Man hat mir nie erklärt, woran das lag, aber offensichtlich hatten sich meine Eltern auseinandergelebt. Mein Vater besaß ein zweites Haus, ein noch größeres, in Tiberias, am Ufer des Sees, und führte seine Geschäfte von dort aus. Wenn er bei uns in Nazareth war, blieb er merkwürdig distanziert. Er war streng, aber nicht unfreundlich. Als ich vierzehn oder fünfzehn war, habe ich ihn einmal unangekündigt in Tiberias besucht. Eine Beduinin öffnete mir die Tür, und nachdem sie mich zu meinem Vater geführt hatte, zog sie sich in ein Nebenzimmer zurück. Ich sehe heute noch die wunderschönen Mandelaugen unter ihrem Schleier vor mir, als sie aus dem Zimmer ging und die Tür so diskret schloss, dass man es nicht hörte.
Wer war sie? Das wollte ich gern wissen. Mein Vater sagte, sie sei eine Dienerin, aber ich kannte seine Dienerschaft, und sie gehörte nicht dazu. Ich sagte, sie sehe nicht aus wie eine Dienerin, sei auch nicht wie eine gekleidet und benehme sich nicht so. Er erwiderte, ich solle nicht vergessen, dass er mein Vater sei und ich ihm Respekt schulde, solche Fragen gehörten sich nicht. Ich hatte mich schon öfter gefragt, warum er sich nicht von meiner Mutter scheiden ließ und lediglich von ihr getrennt lebte. Doch wenn die neue Frau an seiner Seite eine Araberin war, lag auf der Hand, dass er sie im Hintergrund halten wollte und seine bereits bestehende Ehe als Schutzschild brauchte. Als Kind bedeutete »Familie« für mich also hauptsächlich: ich, meine Mutter, unsere Diener und der Gärtner.
Jesus kam gern zu uns. Er liebte unser gekacheltes Badehaus. Er liebte das rote Zelt, das Frühstück und den Blick auf den Ort. Wir legten uns gern am Rand der Terrasse auf den Bauch, schauten in die Landschaft und stellten uns vor, da
Weitere Kostenlose Bücher