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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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Gekreuzigte ächzte, stöhnte und rang nach Atem, der andere schrie und fluchte, auch noch, als das Kreuz aufgerichtet und in das Erdloch hinabgelassen wurde, das als Verankerung diente.
    Auf dem Rückweg ins Dorf war mir vor Entsetzen ganz übel, und ich hatte Gänsehaut. Der leiseste Windhauch traf mich wie ein eiskalter Wintersturm, und im nächsten Moment hatte ich das Gefühl, die Sonne würde mich bei lebendigem Leibe verbrennen. Ich konnte kaum atmen. Ich war voller Angst und Ekel. Aber auch Mitleid. Ich stellte mir vor, dass ich in der Nacht zurückkehren und die Männer von den Kreuzen holen würde. Alle Römer, die mir in die Quere kämen, würde ich töten. Dann würde ich die Wunden der Räuber salben und die Männer in die Freiheit entlassen. Ich wusste, dass es eine alberne Fantasterei war, aber sie half mir, die Realität zu ertragen, die unmenschliche Brutalität, mit der man die Minuten und Stunden verstreichen ließ, in denen die Männer an ihren Kreuzen hingen und langsam, ganz langsam starben.
    In dieser Nacht weckte ich meine Mutter und die Dienerschaft durch lautes Schreien, aber als sie an mein Bett kamen, tat ich so, als könne ich mich nicht an den Albtraum erinnern, der mich so geängstigt hatte.
    Jesus und ich hatten verabredet, am nächsten Tag zu der Kreuzigungsstätte zurückzukehren, aber ich weigerte mich. Jesus ging allein. Was er mir später zu berichten hatte, hörte ich mir zwar an, aber das bereute ich bald. Er hatte gesehen, wie römische Soldaten den Männern mit Eisenstangen die Beine brachen. Heute weiß ich, dass es sich dabei um eine Methode zur Beschleunigung des Todes handelte. Mit gebrochenen Beinen »standen« die Männer nicht mehr auf ihren festgenagelten Füßen, sondern hingen nur noch an den ebenfalls festgenagelten Händen. In dieser Haltung konnten sie kaum noch Luft bekommen, und der Luftmangel führte langsam zu Herzversagen.
    Für uns waren diese Männer keine Diebe, keine Kriminellen, keine Bösen. Für uns waren sie Opfer. So schreckliches Leid zu sehen erzeugt Mitleid. Was immer diese Männer getan hatten, war nichts im Vergleich zu dem, was ihnen angetan wurde. Wir waren voller Hass gegen die Römer, aber auch voller Angst.
    Als ich Jerusalem vor vielen Jahren nach Jesu Hinrichtung verließ, war ich zutiefst angewidert – von den Ereignissen, dem ganzen Getue um die »Heilige Stadt« und von mir selbst. Ich kam hierher nach Sidon, um die Vergangenheit hinter mir zu lassen, ein neues Leben anzufangen und eine neue Identität anzunehmen. Deswegen betrachtete ich es als ein gutes Omen und einen Segen, als der Ochsenkarren mit meinen wenigen Habseligkeiten vom Blitz getroffen wurde und verbrannte. Meine Vergangenheit lag zur Gänze hinter mir, als selbst das Wenige, das ich in mein neues Leben hatte hinüberretten wollen, zerstört war.
    Und doch kann man seiner Vergangenheit nie ganz entkommen. Über die Jahre bin ich immer wieder Reisenden begegnet, die Neues aus meiner alten Heimat berichteten. Obwohl ich stets auf Distanz blieb, kann ich eine gewisse Neugier nicht verhehlen. Vor allem das Fortbestehen der Jesussekte habe ich mit Befremden verfolgt, den Eifer der Missionare und ihre mit den Jahren wachsende Überzeugung, Jesus sei tatsächlich der Messias, zu seinen Lebzeiten habe er Wunder vollbracht und nach dem Tode sei er auferstanden.
    Wenn sie die alten Geschichten erzählen, wird ab und zu auch mein Name genannt, »Judas Iskariot«. Ich gelte als Verräter und Bösewicht. Am Ende dieser Erzählungen sterbe ich – manchmal durch meine eigene Hand (dass ich mich an einem dürren Feigenbaum erhängt habe, scheint die Lieblingsvariante zu sein), manchmal durch einen schrecklichen Unfall, bei dem ich auf einem Acker stürze, den ich von dem Lohn für den Verrat Jesu gekauft habe. Dort werde ich von einer Pflugschar zerrissen, und mein Blut und meine Eingeweide ergießen sich über den Ackerboden, der daraufhin unfruchtbar wird und es für alle Zeiten bleibt.
    Ich höre zu, ich lächle, ich sage nichts.
    Ein Kind
    bannt Arges
    durch Fantasie,
    ein Mann jedoch
    muss Wahrheit
    ertragen.
    Bisweilen nachts
    Erinnerung an
    Nägel in Holz,
    getrieben erst
    durch Fleisch.
    Ich flüchte
    mich in alte
    Texte, Psalmen, das
    Hohelied Salomon –
    nicht aus
    Pietät oder Gottesglaube,
    sondern weil
    von hässlicher Wahrheit
    nur Schönheit
    ablenkt.

Kapitel 4
    Jesus und ich kämpften miteinander, wie Jungen und junge Tiere es tun: nur solange es Spaß machte,

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